Rumpelstilzli.li - E-Learning für die ersten 3 Schuljahre

...zurück zur Übersicht

Text-Erklärungen sind anaus
alle Erklärungen anzeigenFragen zur Geschichte beantwortenGeschichte hören und mitlesenGeschichte und Fragen als PDF downloaden

Das Rätsel

Art: Märchen
AutorIn: Brüder Grimm
Land: Deutschland
Sprecher: Tom Keymer

Es war einmal ein Königssohn. Er bekam Lust, in der Welt umherzuziehen. Er nahm niemand mit als einen treuen Diener. Eines Tages geriet er in einen grossen Wald. Als der Abend kam, konnte er keine Herberge finden und wusste nicht, wo er die Nacht verbringen sollte.

Da sah er ein Mädchen, das zu einem kleinen Häuschen ging. Als er näher kam, sah er, dass das Mädchen jung und schön war. Er redete es an und sprach: »Liebes Kind, können ich und mein Diener in dem Häuschen die Nacht verbringen?« »Ach ja,« sagte das Mädchen mit trauriger Stimme, »das könnt ihr wohl, aber ich rate euch nicht dazu. Geht nicht hinein.«

»Warum soll ich nicht?« fragte der Königssohn. Das Mädchen seufzte und sprach: »Meine Stiefmutter treibt böse Künste, sie meint’s nicht gut mit den Fremden.« Da merkte der Königssohn wohl, dass er zu dem Hause einer Hexe gekommen war. Doch weil es finster wurde und er nicht weiter konnte, so trat er ein.

Die Alte sass auf einem Lehnstuhl beim Feuer und sah mit ihren roten Augen die Fremden an. »Guten Abend,« schnarrte sie und tat ganz freundlich, »lasst euch nieder und ruht euch aus.« Sie blies die Kohlen an, über denen sie in einem kleinen Topf etwas kochte. Die Tochter warnte die beiden, vorsichtig zu sein, nichts zu essen und nichts zu trinken, denn die Alte braue böse Getränke. Sie schliefen ruhig bis zum frühen Morgen.

Als sie sich zur Abreise fertig machten und der Königssohn schon zu Pferde sass, sprach die Alte: »Warte einen Augenblick, ich will euch erst einen Abschiedstrank reichen.« Während sie ihn holte, ritt der Königssohn fort, und der Diener, der seinen Sattel festschnallen musste, war allein da, als die böse Hexe mit dem Trank kam. »Das bring deinem Herrn,« sagte sie. Aber in dem Augenblick zersprang das Glas. Das Gift spritzte auf das Pferd. Es war so stark, dass das Tier gleich tot hinstürzte.

Der Diener lief seinem Herrn nach und erzählte ihm, was geschehen war. Er wollte aber den Sattel nicht im Stich lassen und lief zurück, um ihn zu holen. Wie er aber zu dem toten Pferde kam, sass schon ein Rabe darauf und frass davon. »Wer weiss, ob wir heute noch was Besseres finden,« sagte der Diener, tötete den Raben und nahm ihn mit. Nun zogen sie den ganzen Tag im Walde weiter, konnten aber nicht herauskommen.

Bei Anbruch der Nacht fanden sie ein Wirtshaus und gingen hinein. Der Diener gab dem Wirt den Raben, den er zum Abendessen bereiten sollte. Sie waren aber in eine Mördergrube geraten. In der Dunkelheit kamen zwölf Mörder und wollten die Fremden umbringen und berauben. Ehe sie sich aber ans Werk machten, setzten sie sich zu Tisch.

Der Wirt und die Hexe setzten sich zu ihnen. Sie assen zusammen eine Schüssel mit Suppe, in die das Fleisch des Raben gehackt war. Kaum aber hatten sie ein paar Bissen hinuntergeschluckt, so fielen sie alle tot nieder, denn der Rabe hatte das Gift vom Pferdefleisch in sich. Nun war niemand mehr im Hause übrig als die Tochter des Wirts. Sie war ehrlich. Sie öffnete dem Fremden alle Türen und zeigte ihm die angehäuften Schätze. Der Königssohn aber sagte, sie möchte alles behalten, er wollte nichts davon. Und er ritt mit seinem Diener weiter.

Nachdem sie lange herumgezogen waren, kamen sie in eine Stadt, worin eine schöne, aber übermütige Königstochter war. Sie hatte bekanntmachen lassen, wer ihr ein Rätsel vorlege, das sie nicht erraten könne, der solle ihr Gemahl werden. Wenn sie es aber erriete, so müsse er sich den Kopf abschlagen lassen. Drei Tage hatte sie Zeit, sich zu besinnen.

Sie war aber so klug, dass sie immer die vorgelegten Rätsel vor der bestimmten Zeit erriet. Schon waren neun Männer auf diese Weise umgekommen, als der Königssohn ankam. Er war von ihrer grossen Schönheit geblendet und wollte sein Leben daransetzen, um sie heiraten zu können.

Da trat er vor sie hin und gab ihr sein Rätsel auf:
»Was ist das,« sagte er, »einer schlug keinen und schlug doch zwölfe.«
Sie wusste nicht, was das war. Sie sann und sann, aber sie brachte es nicht heraus. Sie schlug ihre Rätselbücher auf, aber es stand nicht drin — kurz, ihre Weisheit war zu Ende.

Da sie sich nicht zu helfen wusste, befahl sie ihrer Magd, in das Schlafgemach des Herrn zu schleichen. Da sollte sie seine Träume behorchen. Sie dachte, er rede vielleicht im Schlaf und verrate das Rätsel. Aber der kluge Diener hatte sich statt des Herrn ins Bett gelegt. Als die Magd hereinkam, riss er ihr den Mantel ab, in den sie sich verhüllt hatte und jagte sie mit Ruten hinaus.

In der zweiten Nacht schickte die Königstochter ihre Kammerjungfer. Die sollte sehen, ob es ihr mit dem Horchen besser glückte. Aber der Diener nahm auch ihr den Mantel weg und jagte sie mit Ruten hinaus.

Nun glaubte der Herr, für die dritte Nacht sicher zu sein und legte sich in sein Bett. Da kam die Königstochter selbst. Sie hatte einen nebelgrauen Mantel an und setzte sich neben ihn. Als sie dachte, er schliefe und träumte, so redete sie ihn an und hoffte, er werde im Traume antworten, wie es viele tun. Aber er war wach und verstand und hörte alles sehr wohl.

Da fragte sie: »Einer schlug keinen, was ist das?« Er antwortete: »Ein Rabe, der von einem toten und vergifteten Pferde frass und davon starb.« Und weiter fragte sie: »Und schlug doch zwölfe, was ist das?« »Das sind zwölf Mörder, die den Raben verzehrten und daran starben.«

Als sie das Rätsel wusste, wollte sie sich fortschleichen. Aber er hielt ihren Mantel fest, so dass sie ihn zurücklassen musste. Am andern Morgen verkündete die Königstochter, sie habe das Rätsel erraten. Sie liess die zwölf Richter kommen und löste es vor ihnen.

Aber der Jüngling bat sich Gehör aus und sagte: »Sie ist in der Nacht zu mir geschlichen und hat mich ausgefragt, denn sonst hätte sie es nicht erraten.« Die Richter sprachen: »Bringt uns einen Beweis.« Da wurden die drei Mäntel von dem Diener herbeigebracht. Und als die Richter den Nebelgrauen erblickten, den die Königstochter zu tragen pflegte, so sagten sie: »Lasst den Mantel sticken mit Gold und Silber, so wird’s euer Hochzeitsmantel sein.«
 



...nach oben