Rumpelstilzli.li - E-Learning für die ersten 3 Schuljahre

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Der singende Knochen

Art: Märchen
AutorIn: Brüder Grimm
Land: Deutschland
Sprecher: Tom Keymer

Es war einmal in einem Lande grosse Klage über ein Wildschwein, das den Bauern die Äcker umwühlte, das Vieh tötete und den Menschen mit seinen Hauern den Leib aufriss. Der König versprach einem jeden, der das Land von dieser Plage befreien würde, eine grosse Belohnung. Aber das Tier war so gross und stark, dass sich niemand in die Nähe des Waldes wagte, worin es hauste. Endlich liess der König bekanntmachen, wer das Wildschwein einfange oder töte, solle seine einzige Tochter zur Gemahlin haben.

Nun lebten zwei Brüder in dem Lande, Söhne eines armen Mannes. Sie meldeten sich und wollten das Wagnis übernehmen. Der Ältere, der listig und klug war, tat es aus Hochmut. Der Jüngere, der unschuldig und dumm war, aus gutem Herzen.

Der König sagte: »Damit ihr das Tier sicher findet, sollt ihr von entgegengesetzten Seiten in den Wald gehen.« Da ging der Ältere von Abend und der Jüngere von Morgen hinein. Als der Jüngere ein Weilchen gegangen war, trat ein kleines Männlein zu ihm. Es hielt einen schwarzen Spiess in der Hand und sprach:

»Diesen Spiess gebe ich dir, weil dein Herz unschuldig und gut ist. Damit kannst du getrost auf das wilde Schwein zugehen, es wird dir keinen Schaden zufügen.« Er dankte dem Männlein, nahm den Spiess auf die Schulter und ging ohne Furcht weiter. Nicht lange danach erblickte er das Tier. Es rannte auf ihn los. Er hielt ihm aber den Spiess entgegen, und in seiner blinden Wut rannte es so gewaltig hinein, dass ihm das Herz entzweigeschnitten wurde. Da nahm er das Ungetüm auf die Schulter, ging heimwärts und wollte es dem König bringen.

Als er auf der anderen Seite des Waldes herauskam, stand da am Eingang ein Haus, wo die Leute sich mit Tanz und Wein lustig machten. Sein älterer Bruder war da eingetreten und hatte gedacht, das Schwein liefe ihm doch nicht fort. Erst wollte er sich Mut antrinken. Als er nun den Jüngeren erblickte, der mit seiner Beute beladen aus dem Walde kam, so liess ihm sein neidisches und boshaftes Herz keine Ruhe.

Er rief ihm zu: »Komm doch herein, lieber Bruder, ruhe dich aus und stärke dich mit einem Becher Wein.« Der Jüngere, der nichts Böses dahinter vermutete, ging hinein und erzählte ihm von dem guten Männlein, das ihm einen Spiess gegeben habe, womit er das Schwein getötet hatte.

Der Ältere hielt ihn bis zum Abend zurück, da gingen sie zusammen fort. Als sie aber in der Dunkelheit zu der Brücke über einen Bach kamen, liess der Ältere den Jüngeren vorangehen. Als er mitten über dem Wasser war, gab er ihm von hinten einen Schlag, so dass er tot hinabstürzte. Er begrub ihn unter der Brücke. Dann nahm er das Schwein, brachte es dem König und sagte, er hätte es getötet. Darauf erhielt er die Tochter des Königs zur Gemahlin. Als der jüngere Bruder nicht wiederkam, sagte er: »Das Schwein wird ihm den Leib aufgerissen haben«, und das glaubte jedermann.

Weil aber vor Gott nichts verborgen bleibt, sollte auch diese schwarze Tat ans Licht kommen. Nach langen Jahren trieb ein Hirte einmal seine Herde über die Brücke und sah unten im Sande ein schneeweisses Knöchlein liegen. Er dachte, das gäbe ein gutes Mundstück. Da stieg er hinab, hob es auf und schnitzte ein Mundstück daraus für sein Horn. Als er zum ersten Mal darauf blies, fing das Knöchlein zur grossen Verwunderung des Hirten von selbst an zu singen:

»Ach, du liebes Hirtelein,
du bläst auf meinem Knöchelein,
mein Bruder hat mich erschlagen,
unter der Brücke begraben,
um das wilde Schwein,
für des Königs Töchterlein.«

»Was für ein wunderliches Hörnchen«, sagte der Hirt, »das von selber singt, das muss ich dem Herrn König bringen.« Als er damit vor den König kam, fing das Hörnchen abermals an sein Liedchen zu singen. Der König verstand es wohl und liess die Erde unter der Brücke aufgraben, da kam das ganze Gerippe des Erschlagenen zum Vorschein.

Der böse Bruder konnte die Tat nicht leugnen, wurde in einen Sack genäht und lebendig ersäuft. Die Gebeine des Gemordeten aber wurden auf den Kirchhof in ein schönes Grab zur Ruhe gelegt.
 



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