Rumpelstilzli.li - E-Learning für die ersten 3 Schuljahre

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Der Traum des Wolfes

Art: Märchen
AutorIn: J. W. Wolf
Land: Deutschland
Sprecher: Tom Keymer

Der Wolf lag eines Nachts in seiner Höhle. Da klang es ihm im linken Ohr. »Oh, das bedeutet eine hochzeitliche Speise!« sprach er, liess morgens alle seine Brocken liegen, welche er noch übrig hatte und marschierte weg.

Da kam er auf eine Wiese, wo zwei Widder weideten. Er ging zu ihnen und sprach: »Einen von euch muss ich fressen.« »Herr, wie du willst,« sprach der ältere von den Widdern, »wir können gegen dich nichts ausrichten. Aber du bist ein guter Landmesser und könntest vorher die Weide abmessen. Dann kannst du uns sagen, wie viel jedem von uns gehört. Dann gibt es keine Erbstreitigkeiten.«

»Das soll geschehen«, sprach der Wolf, dem dies schmeichelte. Er lief, die Nase an der Erde, rund um die Wiese herum und stellte sich dann in die Mitte. »Stellt euch auf die beiden Ecken,« rief der Wolf, »du dahin, du dorthin und lauft auf mich zu, dann werdet ihr finden, dass ich recht gemessen habe.« Und das geschah. Die Widder liefen auf ihn zu und stiessen ihn so unsanft mit den Hörnern, dass ihm der Appetit nach ihnen verging und er wie tot liegen blieb.

Als er wieder zu sich kam, sprach er: »Die Schmerzen beachte ich nicht, ich traue auf mein Ohr«. Und er ging weiter und kam an eine andere Wiese. Da weidete ein Pferd mit seinem Füllen. »Eins von euch muss ich fressen« rief er.

Das Pferd sprach: »Herr, wie du willst, du bist der Stärkere, aber ich habe mir einen Dorn in den Fuss getreten. Frisst du mir mein Füllen, dann habe ich niemand, der mir den Dorn aus dem Fusse zieht. Darum bitte ich dich, tue mir zuvor den Liebesdienst, du bist doch als geschickter Arzt bekannt.«

»Das soll geschehen,« sprach der Wolf, dem der Mund nach dem jungen Füllenfleisch wässrig wurde. Und ausserdem tat ihm das Lob sehr wohl. »Heb’ nur den Fuss auf und sage mir, wo der Dorn steckt, ich hole ihn eins, zwei, drei heraus.« Das Pferd hob einen Hinterhuf, der Wolf trat hinzu. Aber als er recht genau hinguckte, schlug ihn das Pferd vor den Kopf, dass ihm grün und gelb vor den Augen wurde und er wie tot liegen blieb.

Als er wieder zur Besinnung kam, sprach er: »Die Schmerzen beachte ich nicht, ich traue meinem Ohr und muss meine hochzeitliche Speise finden.« Er schritt, anfangs matt, dann immer rüstiger weiter und kam an ein Dorf.

Vor dem Dorf stand der Backofen und glühte. Vor dem Backofen stand eine alte Geiss mit sieben jungen Geisschen. Die meckerten, dass es eine Freude war. Der Wolf lief auf sie zu und rief: »Eins von euch muss ich fressen.« »MUSS ist ein bitteres Kraut«, sprach die Geiss, »aber Herr, wie du willst, denn du bist der Stärkere. Nur könntest du uns zuvor noch einen Gefallen tun. Wir sangen soeben das Lied "Eine feste Burg", aber die Melodie will nicht recht heraus. Da du ein so guter Sänger bist, könntest du sie uns noch einmal vorsingen.

Dann magst du sogleich eins von meinen Geisschen fressen und kannst es dir aussuchen.« Das schmeichelte dem Wolf nicht wenig, denn er hörte das Lob gar zu gern. Er setzte sich auf seine Hinterbeine, fegte mit den Vorderpfoten in der Luft herum, als schlüge er den Takt und fing an zu heulen. Sein Geheul war so laut, dass alle Bauern im Dorfe zusammenliefen und ihm das Fell so zergerbten, dass ihm die Lust nach Geissenfleisch ganz und gar verging.

Da schlich er betrübt und hungrig in den Wald, legte sich unter einen Eichbaum und rief: »Ach, was bin ich doch für ein dummer Kerl! Ach Gott, wirf dein scharfes Schwert von deinem elfenbeinernen Turm und strafe mich um meiner Dummheit willen, dass ich meinem linken Ohr so viel getraut habe!«

Nun sass aber auf der Eiche ein Bauer, der mit seinem Beil im Walde gearbeitet hatte. Als er den Wolf kommen sah, war er auf den Baum geklettert. Und wie er jetzt den Wolf rufen hörte, fasste er das Beil und warf es ihm grade zwischen die Ohren.

»Uh,« schrie der Wolf, »die Stätte ist gar zu heilig, da wird jede Bitte sofort erhört«. Und er schleppte sich schachmatt und halbtot zu seiner Höhle.

Da fand er kein Bröcklein mehr von seinem Vorrat, und er sprach trostlos zu sich selbst: »Mein Vater war kein Landmesser, darum kann ich auch keiner sein. Mein Vater war kein Arzt, darum kann ich auch keiner sein. Mein Vater war kein Sänger, darum kann ich auch keiner sein und kann mir mein Brot nicht verdienen.« Und darüber quälte er sich so, dass er sich hinlegte und starb.



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