Rumpelstilzli.li - E-Learning für die ersten 3 Schuljahre

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Brüderchen und Schwesterchen

Art: Märchen
AutorIn: Brüder Grimm
Land: Deutschland
Sprecher: Tom Keymer

Brüderchen nahm sein Schwesterchen an der Hand und sprach: »Seit die Mutter tot ist, haben wir keine gute Stunde mehr. Die Stiefmutter schlägt uns jeden Tag und gibt uns nur harte Brotkrusten zu essen. Komm, wir wollen miteinander in die weite Welt gehen.« Sie gingen den ganzen Tag über Wiesen, Felder und Steine. Wenn es regnete, sprach das Schwesterchen: »Gott und unsere Herzen, die weinen zusammen!« Abends kamen sie in einen grossen Wald und waren so müde von Jammer, Hunger und dem langen Weg, dass sie sich in einen hohlen Baum setzten und einschliefen.

Am anderen Morgen, als sie aufwachten, stand die Sonne schon hoch am Himmel und schien heiss in den Baum hinein. Da sprach das Brüderchen: »Schwesterchen, mich dürstet. Wenn ich ein Brünnlein wüsste, ich ging’ und tränke einmal. Ich mein’, ich hör’ eins rauschen.« Brüderchen stand auf, nahm Schwesterchen an der Hand, und sie wollten das Brünnlein suchen. Die böse Stiefmutter aber war eine Hexe und hatte wohl gesehen, wie die beiden Kinder fortgegangen waren.

Sie war ihnen nachgeschlichen — heimlich, so wie Hexen schleichen — und hatte alle Brünnlein im Walde verwünscht. Als sie nun ein Brünnlein fanden, wollte das Brüderchen daraus trinken — aber das Schwesterchen hörte, wie es im Rauschen sprach: »Wer aus mir trinkt, wird ein Tiger!« Da rief das Schwesterchen: »Ich bitte dich, Brüderchen, trink nicht, sonst wirst du ein wildes Tier und zerreissest mich!« Das Brüderchen trank nicht, obwohl es grossen Durst hatte, und wartete bis zur nächsten Quelle.

Als es sich gerade hinabbeugte, hörte das Schwesterchen, wie auch dieses sprach: »Wer aus mir trinkt, wird ein Wolf!« Da wartete das Brüderchen, bis sie zur dritten Quelle kamen, aus der es im Rauschen klang »Wer aus mir trinkt, wird ein Reh!« Aber das Brüderchen konnte nun nicht mehr länger warten, so durstig war es, und trank. Und wie die ersten Tropfen auf seine Lippen gekommen waren, lag es da als ein Rehkälbchen.

Nun weinte das Schwesterchen über das arme verwünschte Brüderchen, und auch das Rehlein weinte. Da sprach das Mädchen: »Sei still, liebes Rehlein, ich will dich ja nimmermehr verlassen.« Dann band es sein goldenes Strumpfband ab und legte es dem Rehlein um den Hals. Es rupfte Binsen und flocht ein weiches Seil daraus. Daran band es das Tierchen und führte es weiter und ging immer tiefer in den Wald hinein. Und als sie lange, lange gegangen waren, kamen sie endlich an ein kleines Haus.

Das Mädchen schaute hinein, und weil es leer war, dachte es: »Hier können wir bleiben und wohnen«. Da suchte es dem Rehlein Laub und Moos zu einem weichen Lager, und jeden Morgen ging es aus und sammelte Wurzeln, Beeren und Nüsse, und für das Rehlein brachte es zartes Gras mit. Das frass es ihm aus der Hand, war vergnügt und spielte vor ihm herum. Abends, wenn Schwesterchen müde war, legte es seinen Kopf auf den Rücken des Rehkälbchens — das war sein Kissen — und schlief sanft ein. Und hätte das Brüderchen nur seine menschliche Gestalt gehabt, es wäre ein herrliches Leben gewesen.

Es dauerte eine Zeitlang, dass sie so allein in der Wildnis waren. Es trug sich aber zu, dass der König des Landes eine grosse Jagd in dem Wald hielt. Da schallte das Hörnerblasen, Hundegebell und das lustige Geschrei der Jäger durch die Bäume. Das Rehlein hörte es und wäre gar zu gerne dabeigewesen. »Ach«, sprach es zum Schwesterchen, »lass mich hinaus. Ich kann’s nicht mehr länger aushalten.« Und es bat so lange, bis das Schwesterchen einwilligte.

»Aber komme ja abends wieder«, sprach es. »Vor den wilden Jägern schliess’ ich mein Türlein. Und damit ich dich erkenne, klopf und sprich: Mein Schwesterlein, lass mich herein! Wenn du nicht so sprichst, schliess’ ich mein Türchen nicht auf.« Nun sprang das Rehlein hinaus. Wie war es so froh und so lustig in der frischen Luft! Der König und seine Jäger sahen das schöne Tier und setzten ihm nach, aber sie konnten es nicht einholen. Als es dunkel wurde, lief es zum Häuschen, klopfte und sprach: »Mein Schwesterlein, lass mich herein.« Da wurde ihm die kleine Tür aufgetan, es sprang hinein und ruhte sich die ganze Nacht auf seinem weichen Lager aus.

Am anderen Morgen ging die Jagd weiter, und das Rehlein bettelte so lange, bis ihm das Schwesterchen die Tür öffnete und sagte: »Aber am Abend musst du wieder da sein und dein Sprüchlein sagen.« Als der König das Reh mit dem goldenen Halsband erneut entdeckte, jagte er den ganzen Tag hinter ihm her, und einer seiner Jäger verletzte es ein wenig am Fuss, so dass es hinken musste. Und als es langsam fortlief, schlich ihm ein Jäger nach bis zu dem Häuschen und hörte, wie es rief: »Mein Schwesterlein, lass mich herein!«

Das erzählte er dem jungen König. »Morgen soll noch einmal gejagt werden!« sagte dieser. Und wirklich, am nächsten Morgen war das Rehlein wieder frisch und munter und sprang fröhlich vor den Jägern her. Als es aber Abend wurde, liess sich der König von seinem Jäger zu dem Häuschen führen und sagte an Stelle des Rehleins: »Mein Schwesterlein, lass mich herein!«

Da ging die Tür auf und der König trat herein, und da stand ein Mädchen, das war so schön, wie er noch keines gesehen hatte. Das Mädchen erschrak, als es sah, dass nicht sein Rehlein, sondern ein Mann hereinkam, der eine goldene Krone auf dem Kopf hatte. Aber der König sah es freundlich an, reichte ihm die Hand und sprach: »Willst du mit mir auf mein Schloss gehen und meine liebe Frau sein?« — »Ach ja«, antwortete das Mädchen, »aber das Rehlein muss auch mit, das verlass’ ich nicht.« Da sprach der König: »Es soll bei dir bleiben, solange du lebst, und es soll ihm an nichts fehlen.«

Der König nahm das schöne Mädchen auf sein Pferd und führte es auf sein Schloss, wo die Hochzeit mit grosser Pracht gefeiert wurde. Das Schwesterchen war nun Frau Königin, und das Rehlein wurde gepflegt und sprang im Schlossgarten herum.

Die böse Stiefmutter aber, deretwegen die Kinder in die Welt hinausgegangen waren, hörte nun, wie glücklich sie waren, wie es ihnen gut ging. Da wurden Neid und Missgunst in ihrem Herzen rege und liessen ihr keine Ruhe. Sie hatte keinen anderen Gedanken, als wie sie die beiden doch noch ins Unglück bringen könnte. Ihre rechte Tochter, die hässlich war wie die Nacht und nur ein Auge hatte, machte ihr Vorwürfe und sprach: »Eine Königin zu werden, das Glück hätte mir gebührt.« — »Sei nur still«, sagte die Alte, »wenn’s Zeit ist, will ich schon bereit sein.«

Als nun die Zeit herangerückt war und die Königin ein schönes Knäblein zur Welt gebracht hatte, passten sie einen Tag ab, wo der König auf der Jagd war. Die alte Hexe nahm die Gestalt der Kammerjungfrau an, trat in die Stube, wo die Königin lag und sprach zu ihr: »Kommt, das Bad ist fertig, das wird euch wohltun und frische Kräfte geben. Geschwind, ehe es kalt wird.« Ihre Tochter war auch dabei — sie trugen die schwache Königin in die Badestube und legten sie in die Wanne.

Dann schlossen sie die Tür ab und liefen davon. In der Badestube aber hatten sie ein rechtes Höllenfeuer angemacht, dass die schöne junge Königin bald ersticken musste. Als das vollbracht war, nahm die Alte ihre Tochter, setzte ihr eine Haube auf und legte sie ins Bett der Königin. Sie gab ihr auch die Gestalt und das Ansehen der Königin, nur das verlorene Auge konnte sie ihr nicht wiedergeben. Damit es aber der König nicht merkte, musste sie sich auf die Seite legen, wo sie kein Auge hatte.

Am Abend, als er heimkam und hörte, dass ihm ein Söhnlein geboren war, freute er sich herzlich und wollte ans Bett seiner lieben Frau gehen und sehen, was sie machte. Da rief die Alte geschwind: »Lasst um Himmels willen die Vorhänge zu, die Königin darf noch nicht ins Licht sehen und muss Ruhe haben.«

Der König ging zurück und wusste nicht, dass eine falsche Königin im Bett lag. Als es aber Mitternacht war und alles schlief, da sah die Kinderfrau, die in der Kinderstube neben der Wiege sass und allein noch wachte, wie die Tür aufging und die rechte Königin hereintrat. Sie nahm das Kind aus der Wiege, legte es in ihren Arm und gab ihm zu trinken. Dann schüttelte sie ihm das Kissen, legte es wieder hin und deckte es mit dem Deckbettchen zu. Sie vergass aber auch das Rehlein nicht, ging in die Ecke, wo es lag und streichelte ihm über den Rücken.

Darauf ging sie ganz stillschweigend wieder zur Tür hinaus. Die Kinderfrau fragte am anderen Morgen die Wächter, ob jemand während der Nacht ins Schloss gegangen wäre, aber sie antworteten: »Nein, wir haben niemanden gesehen.« So kam sie viele Nächte und sprach niemals ein Wort dabei. Die Kinderfrau sah sie immer, aber sie getraute sich nicht, jemandem etwas davon zu sagen. Als nun so eine Zeit verflossen war, da fing die Königin in der Nacht an zu reden und sprach:
»Was macht mein Kind? Was macht mein Reh?
Nun komm’ ich noch zwei Mal und dann nimmermehr.«

Die Kinderfrau antwortete ihr nicht, aber als sie wieder verschwunden war, ging sie zum König und erzählte ihm alles. Da sprach der König: »Ach Gott, was ist das? Ich will in der nächsten Nacht bei dem Kinde wachen.« Abends ging er in die Kinderstube, und um Mitternacht erschien die Königin wieder und sprach:
»Was macht mein Kind? Was macht mein Reh?
Nun komm’ ich noch ein Mal und dann nimmermehr.«
Dann nahm sie das Kind aus der Wiege, legte es in ihren Arm und gab ihm zu trinken. Sie schüttelte ihm das Kissen, legte es wieder hin und deckte es mit dem Deckbettchen zu. Sie vergass auch diesmal das Rehlein nicht, ging in die Ecke, wo es lag und streichelte ihm über den Rücken.

Der König getraute sich nicht, sie anzusprechen, und so ging sie wieder hinaus. Da wachte der König auch in der nächsten Nacht neben der Wiege, und als es Mitternacht war, erschien wieder die Königin. Sie sprach abermals:
»Was macht mein Kind? Was macht mein Reh?
Nun komm’ ich noch diesmal und dann nimmermehr.«

Da konnte sich der König nicht zurückhalten, sprang zu ihr und sprach: »Du kannst niemand anders sein als meine liebe Frau.« Da antwortete sie »Ja, ich bin deine liebe Frau«, und hatte in dem Augenblick durch Gottes Gnade das Leben wieder erhalten, war frisch, rosig und gesund.

Darauf erzählte sie dem König von dem Frevel, den die böse Hexe und ihre Tochter an ihr verübt hatten. Der König liess beide vor Gericht führen, und es wurde ihnen das Urteil gesprochen. Die Tochter wurde in den Wald geführt, wo sie die wilden Tiere zerrissen, die Hexe wurde ins Feuer gelegt und musste jämmerlich verbrennen.

Und siehe da: Als sie zu Asche verbrannt war, verwandelte sich das Rehkälbchen und erhielt seine menschliche Gestalt wieder! Da lebten sie alle glücklich zusammen bis an ihr Ende.



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