Rumpelstilzli.li - E-Learning für die ersten 3 Schuljahre

...zurück zur Übersicht

Text-Erklärungen sind anaus
alle Erklärungen anzeigenFragen zur Geschichte beantwortenGeschichte hören und mitlesenGeschichte und Fragen als PDF downloaden

Daumesdick

Art: Märchen
AutorIn: Brüder Grimm
Land: Deutschland
Sprecher: Tom Keymer

Ein armer Bauersmann und seine Frau sassen abends beim Herd. Da sprach er: »Es ist so traurig, dass wir keine Kinder haben! Es ist so still bei uns, und in den anderen Häusern ist’s so laut und lustig.« »Ach ja«, antwortete die Frau und seufzte, »wenn’s nur ein einziges wäre, und wenn’s auch ganz klein wäre, nur so gross wie ein Daumen, so wollt’ ich schon zufrieden sein. Wir hätten es doch von Herzen lieb.«

Nun geschah es, dass die Frau schwanger wurde und nach sieben Monaten ein Kind gebar, das zwar an allen Gliedern vollkommen, aber nicht länger als ein Daumen war. »Es ist, wie wir es gewünscht haben. Es soll unser liebes Kind sein.« Und sie nannten es nach seiner Gestalt »Daumesdick«. Sie liessen es nicht an Nahrung fehlen, aber das Kind wurde nicht grösser, sondern blieb, wie es in der ersten Stunde gewesen war. Doch schaute es verständig aus den Augen und zeigte sich bald als ein kluges und behändes Ding, dem alles glückte, was es anfing.

Eines Tages machte sich der Bauer fertig, in den Wald zu gehen und Holz zu fällen. Da sprach er so vor sich hin: »Jetzt wünschte ich, dass einer da wäre, der mir den Wagen nachbrächte.« »Oh, Vater!« rief Daumesdick, »den Wagen will ich schon bringen. Verlasst euch darauf, er soll zur bestimmten Zeit im Walde sein.« Da lachte der Vater und sprach: »Nun gut, einmal wollen wir es versuchen.«

Als die Stunde kam, spannte die Mutter die Pferde an und setzte Daumesdick ins Ohr des Pferdes, und dann rief der Kleine, wie das Pferd gehen sollte: »Jüh und joh! Hott und har!« Da fuhr der Wagen den rechten Weg zum Walde. Als er gerade um eine Ecke bog und der Kleine »har, har!« rief, kamen zwei fremde Männer daher. »Was ist das?« sprach der eine, »da fährt ein Wagen, und ein Fuhrmann ruft dem Pferde zu, aber niemand ist zu sehen!« — »Das geht nicht mit rechten Dingen zu«, sagte der andere, »wir wollen dem Wagen folgen und sehen, wo er anhält.«

Daumesdick lenkte den Wagen genau zu seinem Vater und liess sich von ihm aus dem Ohr des Pferdes heben. Die beiden Männer gingen zu dem Bauern und sagten: »Verkauf uns den kleinen Mann, er soll’s gut bei uns haben!« »Nein«, antwortete der Bauer, »er ist mein Herzblatt, und ich gebe ihn für alles Gold in der Welt nicht her.« Aber Daumesdick wisperte ihm ins Ohr: »Vater, gib mich nur hin, ich will schon wieder zurückkommen.« Da verkaufte ihn der Vater für ein schönes Stück Geld.

Einer der Männer setzte ihn auf die Krempe seines Hutes, und so hatte Daumesdick während ihrer Wanderschaft eine herrliche Aussicht. Als es dämmerte, verlangte er, einmal auf die Erde gesetzt zu werden. Dort versteckte er sich in einem Mausloch und wartete, bis die beiden Männer enttäuscht ohne ihn weitergezogen waren. Dann erst kroch er heraus und setzte sich in ein leeres Schneckenhaus, um darin zu übernachten.

Als er eben einschlafen wollte, hörte er zwei Männer vorbeigehen, davon sprach der eine: »Wie fangen wir’s nur an, dem reichen Pfarrer sein Gold und Silber wegzunehmen?« — »Das könnte ich dir sagen!« rief Daumesdick dazwischen. Die Diebe blieben erschrocken stehen und horchten. Da sprach Daumesdick wieder: »Nehmt mich mit, so will ich euch helfen.«

»Wo bist du denn?« fragten sie. »Geht nur der Stimme nach«, sagte Daumesdick. Da fanden sie ihn endlich. »Was willst du kleiner Wicht uns helfen!« lachten die Diebe. »Ganz einfach«, sagte Daumesdick, »ich krieche zwischen den Eisenstäben in die Kammer des Pfarrers und reiche euch heraus, was ihr haben wollt.« — »Nicht schlecht«, sagten die Diebe, »wir wollen sehen, was du kannst.« Als sie bei dem Pfarrhaus waren, kroch Daumesdick in die Kammer und schrie aus Leibeskräften: »Wollt ihr alles haben, was hier ist?« Die Diebe erschraken und sagten: »Sprich doch leise, damit niemand aufwacht.«

Aber die Köchin, die in der Stube daneben schlief, war von dem Geschrei schon wach geworden. Sie zündete eine Laterne an und ging nachsehen. Da suchten die Diebe eiligst das Weite. Daumesdick aber lief hinaus in die Scheune. Die Köchin konnte nichts entdecken und glaubte, sie habe geträumt und ging wieder ins Bett. Daumesdick war im Heu herumgeklettert und hatte einen schönen Platz zum Schlafen gefunden. Da wollte er sich ausruhen, bis es Tag wäre, um dann wieder zu seinen Eltern heimzugehen.

Am Morgen kam die Magd in die Scheune, um das Vieh zu füttern. Sie nahm einen Arm voll Heu — gerade dasjenige, worin der arme Daumesdick lag und schlief. Dann warf sie das Heu der Kuh vor. Daumesdick schlief aber so fest, dass er nicht eher aufwachte, als bis er im Maul der Kuh war.

Da hiess es aufpassen, dass er nicht zwischen die Zähne kam und zermalmt wurde. Aber endlich musste er doch mit hinunter in den Magen rutschen. Dieses Quartier gefiel ihm schlecht. Es kam immer neues Heu zur Tür herein, und es wurde immer enger. Da rief er endlich in der Angst so laut er konnte: »Bringt mir kein frisches Futter mehr, bringt mir kein frisches Futter mehr!«

Die Magd melkte gerade die Kuh, und als sie diese sprechen hörte, fiel sie vor Schreck vom Hocker und verschüttete die Milch. Sie lief in grösster Hast zu ihrem Herrn und rief: »Ach Gott, Herr Pfarrer, die Kuh hat geredet!« — »Du bist verrückt«, antwortete der Pfarrer, ging aber doch selbst in den Stall und wollte nachsehen, was es da gäbe. Kaum aber hatte er den Fuss hineingesetzt, da rief Daumesdick aufs Neue: »Bringt mir kein frisches Futter mehr, bringt mir kein frisches Futter mehr!«

Da erschrak der Pfarrer selbst, meinte, es wäre ein böser Geist in die Kuh gefahren und liess sie töten. Sie wurde geschlachtet. Der Magen aber, worin Daumesdick steckte, wurde auf den Mist geworfen. Bevor der arme Daumesdick es schaffte, aus dem Magen herauszukommen, kam ein hungriger Wolf und verschluckte den Magen in einem Stück.

Daumesdick verlor den Mut nicht. »Vielleicht«, dachte er, »lässt der Wolf mit sich reden«. Er rief ihm aus seinem Bauche zu: »Lieber Wolf, ich weiss, wo du etwas zu fressen findest!« — »Wo ist etwas zu holen?« fragte der Wolf. Da beschrieb ihm Daumesdick genau das Haus seines Vaters. Der Wolf liess sich das nicht zweimal sagen, drängte sich nachts in die Vorratskammer und frass nach Herzenslust. Als er sich gesättigt hatte, wollte er wieder fort.

Aber er war so dick geworden, dass er auf demselben Weg nicht wieder hinaus konnte. Damit hatte Daumesdick gerechnet und fing nun an, in dem Leib des Wolfes einen gewaltigen Lärm zu machen. Er tobte und schrie, was er konnte. »Sei still«, sagte der Wolf, »du weckst die Leute auf!« Aber Daumesdick schrie immer weiter. Davon erwachten endlich sein Vater und seine Mutter.

Sie liefen zur Kammer und schauten durchs Schlüsselloch hinein. Als sie sahen, dass ein Wolf darin war, liefen sie davon — der Mann holte die Axt und die Frau die Sense. »Bleib hinter mir«, sprach der Mann, als sie in die Kammer traten, »wenn ich ihm einen Schlag gegeben habe und er davon noch nicht tot ist, so musst du auf ihn einhauen und ihm den Leib zerschneiden!«

Da hörte Daumesdick die Stimme seines Vaters und rief: »Lieber Vater, ich bin hier, ich stecke im Leib des Wolfes!« — »Gottlob!« rief der Vater voller Freuden. »Unser liebes Kind ist wieder da!«

Die Frau musste die Sense weglegen, damit Daumesdick nicht verletzt würde. Dann erschlug der Bauer den Wolf mit der Axt. Sie schnitten ihm den Leib auf und holten ihren Sohn heraus. Sie gaben ihm zu essen und zu trinken und liessen ihm neue Kleider machen.



...nach oben