Rumpelstilzli.li - E-Learning für die ersten 3 Schuljahre

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Schilda 01: Über die Schildbürger

Art: Schwank
AutorIn: unbekannt
Land: Deutschland
Sprecher: Tom Keymer

Im Mittelalter, damals, als man das Schiesspulver noch nicht erfunden hatte, lag mitten in Deutschland eine Stadt, die Schilda hiess. Ihre Einwohner nannte man deshalb die Schildbürger. Das waren merkwürdige Leute. Alles, was sie anpackten, machten sie verkehrt. Und alles, was man ihnen sagte, nahmen sie wörtlich.

Wenn zum Beispiel ein Fremder ärgerlich ausrief: »Ihr habt ja ein Brett vor dem Kopf!«, griffen sie sich auch schon an die Stirn und wollten das Brett wegnehmen. Und meinte ein anderer ungeduldig: »Bei euch piept es ja!«, so sperrten sie neugierig die Ohren auf, lauschten drei Minuten und antworteten dann gutmütig: »Das muss ein Irrtum sein, lieber Mann. Wir hören nichts piepen.«

Soviel Dummheit brachte manchen durchreisenden Kaufmann der Verzweiflung nahe. Andere wieder lachten sich darüber halbtot. Und mit der Zeit lachte, zu guter Letzt, das ganze Land. Kam jemand von einer längeren Reise zurück, so fragte man ihn auch schon, kaum dass er sich die staubigen Stiefel ausgezogen hatte: »Was gibt’s Neues in Schilda? Erzähle!« Und wenn er dann, beim Braunbier, den neuesten Schildbürgerstreich auftischte, hielt sich die vergnügte Runde die Bäuche. »Nein«, riefen sie, »wie kann man nur so dumm sein!«

An dieser Stelle muss ich euch ein Geheimnis anvertrauen. Es heisst: So dumm kann man nicht sein! Daraus folgt einwandfrei, dass auch die Schildbürger nicht so dumm waren, sondern dass sie sich nur so dumm stellten! Das ist natürlich ein grosser Unterschied! Wer nicht weiss, dass ’zwei mal zwei vier ist’, der ist dumm, und ihm ist schwer zu helfen. Wer es aber weiss und trotzdem antwortet, ’zwei mal zwei sei fünf’, der verstellt sich. So ähnlich wie er machten es die Schildbürger.

Und wer unter euch scharf nachdenken kann, der wird mich etwas Bestimmtes fragen wollen. Nun? Was wird er fragen wollen? »Warum stellten sich die Schildbürger eigentlich so dumm? Warum und wozu? Was hatten sie davon?« Ganz recht. Was hatten sie davon? Wer lässt sich schon gern vom ganzen Lande auslachen? Wer ist schon gerne, und noch dazu freiwillig, so dumm wie Bohnenstroh? Ausser den Schildbürgern wüsste ich niemanden. Und damit ihr sie versteht, muss ich erst einmal erzählen, wie ihre Dummheit zustande kam. Die Geschichte ist ein bisschen verzwickt. Ich kann’s nicht ändern. Passt also gut und genau auf!

Lange, sehr lange bevor die Schildbürger durch ihre sprichwörtliche Dummheit berühmt wurden, waren sie tüchtig, beherzt und aufgeweckt. Ja, sie waren sogar tüchtiger und gescheiter als die meisten anderen Leute. Das sprach sich bald herum. Und wenn man sich anderswo keinen Rat mehr wusste, schickte man einen berittenen Boten nach Schilda, damit er Ratschläge einhole.

Am Ende kamen jede Woche mindestens zwei Gesandte aus fernen Reichen und Ländern, brachten prächtige Geschenke von Königen, vom Kaiser und vom Sultan und baten, Schilda möge ihnen den einen oder anderen klugen Einwohner als Minister, Bürgermeister oder Oberrichter ausleihen. So gingen immer mehr Schildbürger ins Ausland, erwarben sich draussen Rang, Ehren und Orden und sandten regelmässig Geld nach Hause.

Ruhm, Geld und Titel sind ganz gut und ganz schön. Aber in Schilda selber ging es mittlerweile drunter und drüber. Da die Männer nicht daheim waren, mussten statt ihrer die Frauen pflügen, säen und ernten. Die Frauen mussten die Pferde beschlagen und das Vieh schlachten. Die Frauen mussten die Kinder unterrichten, die Steuern einkassieren, die Ernte verkaufen, den Marktplatz pflastern, die Zähne ziehen, das Korn mahlen, die Schuhe besohlen, die Semmeln backen, die Bäume fällen, die Predigten halten, die Scheunen ausbessern, die Diebe einsperren, die Glocken läuten, die Bretter hobeln, den Wein keltern, die Brunnen graben, die Wiesen mähen, die Dächer decken und abends im Wirtshaus ’zum Roten Ochsen’ sitzen.

Das war zuviel! Das Vieh verkam. Die Ernte verfaulte. Es regnete durch die Dächer. Auf dem Marktplatz wuchsen Brennnesseln. Die Uhr am Kirchturm ging vier Stunden nach. Die Kinder wurden frech und blieben dumm. Und die armen Frauen wurden vor lauter Sorgen, Mühen und Tränen hässlich und vor der Zeit krumm und alt. Da schrieben sie ihren Männern einen wütenden Brief, worin zu lesen stand, warum und wieso sie nicht länger ein noch aus wüssten und die Männer sollten schleunigst heimkommen!

Da kriegten die Männer einen Heidenschreck. Sie verabschiedeten sich hastig von ihren tiefbetrübten Königen und Kurfürsten und vom Sultan und fuhren, aus allen Himmelsrichtungen, mit der Extrapost nach Hause zurück. Hier schlugen sie erst einmal die Hände über dem Kopf zusammen. Sie kannten ihr Schilda gar nicht wieder. Die Fensterscheiben waren zersprungen. Im Hausflur wuchs Moos. Die Wagenräder quietschten. Die Kinder streckten die Zunge heraus. Und der Wind wehte die Ziegel vom Dach. »Das habt ihr von eurer Gescheitheit!« sagten die Frauen ärgerlich. Und die Männer gingen, ohne ein Wort zu sagen, ins Bett.

Ein paar Tage später trafen sie sich im ’roten Ochsen’ und tranken Bier, klagten einander ihr Leid und kratzten sich hinter den Ohren. Draussen vor dem Gasthof standen schon wieder fünf Gesandte aus fremden Ländern und baten um Gehör.

»Schickt sie weg!« sagte der Ochsenwirt. »Diesmal können wir unsern guten Rat selber brauchen. Das Hemd ist auch uns näher als der Rock.« Dann steckte er den Kopf durchs Fenster und rief: »Wir haben leider alle den Keuchhusten!« Da kletterten die fünf Gesandten auf ihre fünf Pferde und machten sich aus dem Staube. Denn Keuchhusten ist, wie jedes Kind weiss, ansteckend.

So hatten die Schildbürger ihre Ruhe, bestellten die nächste Runde Bier, bliesen den Schaum vom Glas und dachten angestrengt nach. Beim sechsten Glase wischte sich der Schweinehirt den Schnurrbart und sagte: »Ich hab’s!« Er war lange Zeit Stadtbaumeister in Pisa gewesen, hatte dort den bekannten schiefen Turm erbaut und galt auch sonst für sehr tüchtig. »lch hab’s!« sagte er noch einmal. »Die Klugheit war an allem Schuld. Und nur die Dummheit kann uns retten.«

Weil sie ihn zweifelnd anschauten, fuhr er fort: »Uns bleibt kein anderer Ausweg. Wir müssen uns dumm stellen. Sonst lassen uns die Könige, der Kaiser und der Sultan nicht in Ruhe.« »Aber wie stellt man sich dumm?« fragte der Schmied. »Es wird nicht ganz leicht sein«, antwortete der Schweinehirt. »Dumm zu scheinen, ohne dumm zu sein, verlangt viel Scharfsinn. Nun, wir sind gescheite Leute, und so werden wir’s schon schaffen.«

»Bravo!« rief der Schneidermeister. »Dummsein ist einmal etwas anderes!« Und auch den übrigen gefiel der Vorschlag des Schweinehirten ausgezeichnet. Die nächsten zwei Monate übten sie das Sichdummstellen ganz im Geheimen. Dann erst traten sie mit ihrem ersten Streich ans Licht der Öffentlichkeit: mit dem Bau ihres neuen dreieckigen Rathauses. Das machte ihnen einen diebischen Spass. 

Nur der Schulmeister hatte Bedenken. »Denn«, sagte er, »wer sich gescheit stellt, wird davon noch lange nicht richtig gescheit. Wer sich aber lange genug dumm stellt, der wird, fürchte ich, eines Tages wirklich dumm.«

Als ihn die anderen auslachten, rief er ärgerlich: »Da habt ihr’s! Es fängt schon an!« —»Was fängt schon an?« fragte der Hufschmied neugierig. —»Eure Dummheit!« rief der Schulmeister. Da lachten sie ihn aus.



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