Rumpelstilzli.li - E-Learning für die ersten 3 Schuljahre

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Schilda 08: Die Kuh auf der alten Mauer

Art: Schwank
AutorIn: unbekannt
Land: Deutschland
Sprecher: Tom Keymer

Kaum dass der Kaiser abgereist war, wandten sich die Schildbürger wieder mit neuem Mut und Eifer ihren Berufen zu. Der Schmied beschlug die Pferde. Der Schulmeister brachte den Kindern das Einmaleins mit der Sieben bei. Der Schuster besohlte die Schuhe. Der Bäcker backte das Brot. Und der Herr Bürgermeister spazierte durch Schilda, um nachzusehen, ob in der Stadt auch alles in bester Ordnung sei. Dabei musste er feststellen, dass auf der Mauer eines Hauses, das vor Jahren altersmüde eingestürzt war, schönes grünes Gras und würzige Kräuter wuchsen.

Diesen Übelstand brachte er während der nächsten Sitzung im Rathaus zur Sprache und erklärte, es sei eine Sünde und Schande, dass Gras und Kräuter auf der Mauer nutzlos wüchsen, blühten und verkämen.

Der Ochsenwirt schlug vor, das Gras auf der Mauer abzumähen und wer das Gemähte einbringe, der dürfe es verfüttern. Es meldete sich aber niemand. Denn alle miteinander fanden den Vorschlag zu gefährlich. Die Mauer war hoch und brüchig. Und keiner wollte mit der Sense oder der Sichel hinaufklettern und sich dabei womöglich den Hals brechen.

Schliesslich fand der Schreiner nach langen Debatten einen Ausweg. Er sagte: »Wenn schon das Vieh die Mauer kahl fressen soll, dann finde ich, soll es auch selber hinaufklettern.« Dieser plausible Antrag wurde einstimmig angenommen. Ausserdem wurde man sich einig, dass der Kuh des Bürgermeisters die Ehre gebühre. Denn der Bürgermeister habe ja das Gras und die Kräuter droben auf der Mauer entdeckt.

Am nächsten Morgen wurde also die bürgermeisterliche Kuh feierlich zur Mauer geleitet. Der Bürgermeister band das Halfter los und sagte: »So, Minna! Nun klettere hinauf und friss!«

Aber die Kuh Minna dachte nicht im Traum daran, hinaufzuklettern! Man schob sie, sechs Mann hoch, dicht an die Mauer. Der Bürgermeister schlug ihr eins hintendrauf, (nicht der Mauer, sondern der Kuh). Es half alles nichts. Minna wollte nicht.

Da holten sie einen langen Strick, banden ihn der störrischen Kuh um den Hals, warfen das Ende des Stricks über die Mauer und zogen und zerrten und hingen am Seil wie die Küster an der Kirchenglocke. Dem armen Tier quoll, wie es so in der Luft baumelte, die Zunge aus dem Maul.

»Seht ihr?« rief der Schneider. »Sie kriegt schon Appetit!« Und die anderen brüllten munter: »Hau ruck! Hau ruck! Hau ruck!« Minnas Atemnot wurde immer ärger. Ihre Zunge wurde immer länger. »Gleich wird sie fressen!« meinte der Schmied. Aber sie frass nicht. Sie verdrehte die grossen dunklen Augen, zappelte noch einmal mit den Beinen, und aus war es.

Man lockerte den Strick, liess Minna wieder zur Erde herunter und konnte nur noch feststellen, dass sie tot war. Es war ein rechter Jammer! Doch die Schildbürger, dumm, wie sie seit einiger Zeit waren, hielten nicht viel vom Jammern. Sie schlachteten Minna, die Kuh, und veranstalteten beim Ochsenwirt ein Festgelage mit Kuhfleisch.

Auf der Speisekarte stand »Kalbsschnitzel«. Minna, die Kuh, als Kalbsschnitzel beim Ochsenwirt — man kann verstehen, dass es dem Bürgermeister nicht schmeckte. »Liebe Freunde«, sagte er zerknirscht, »an Minnas vorzeitigem Ableben sind einzig und allein unser Scharfsinn und Verstand schuld. Hätte ich das Gras auf der Mauer nicht bemerkt und daraus gefolgert, dass es nutzbringend verwendet werden müsse, wäre das brave Tier noch munter und guter Dinge. Ich fürchte, wir sind noch immer nicht dumm genug.« Die anderen nickten nachdenklich.

Und das Gras und die Kräuter auf der alten Mauer wiegten sich nach wie vor im Sommerwind.



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