Rumpelstilzli.li - E-Learning für die ersten 3 Schuljahre

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Der Wassertropfen

Art: Märchen
AutorIn: H. Chr. Andersen
Land: Dänemark
Sprecher: Tom Keymer

Du kennst ja wohl ein Vergrösserungsglas, so ein rundes Brillenglas, welches alles hundertmal grösser macht, als es ist? Wenn man es nimmt und vor das Auge hält und dadurch den Wassertropfen draussen vom Teiche betrachtet, so erblickt man über tausend wunderbare Tiere, die man sonst nie im Wasser sieht, aber sie sind da, es ist wirklich so. Es sieht fast aus, wie ein ganzer Teller voll Krabben, die untereinander herumspringen. Sie sind sehr raubgierig und reissen einander an Armen und Beinen. Und doch sind sie auf ihre Weise froh und vergnügt.

Nun war einmal ein alter Mann, den alle Leute ’Kribbel-Krabbel’ nannten, denn so hiess er. Er wollte immer das Beste von jeder Sache haben, und wenn das durchaus nicht gehen wollte, dann nahm er es durch Zauberei.

Dieser Mann sass eines Tages und hielt sein Vergrösserungsglas vor das Auge und betrachtete einen Wassertropfen, welcher von draussen aus einer Pfütze im Graben genommen war. Wie es da kribbelte und krabbelte! Alle die tausend Tierchen hüpften und sprangen, zerrten aneinander und frassen voneinander.

»Aber das ist ja abscheulich!« sagte der alte Kribbel-Krabbel, »kann man sie nicht dahin bringen, in Ruhe und Frieden zu leben?« Er dachte und dachte, aber es wollte nicht recht gehen, und deshalb musste er zaubern.

»Ich muss ihnen Farbe geben, damit sie deutlicher gesehen werden können!« sagte er, und dann tröpfelte er etwas, einem kleinen Tropfen Rotwein ähnlich, in den Wassertropfen, aber das war Hexenblut. Nun wurden aber die wunderbaren Tierchen über den ganzen Körper rosarot. Es sah aus wie eine ganze Stadt voller nackter, wilder Männer.

»Was hast du da?« fragte ein anderer alter Zauberer, der keinen Namen hatte. »Ja, kannst du raten, was es ist,« sagte Kribbel-Krabbel, »so will ich es dir schenken, aber es ist nicht leicht herauszufinden, wenn man es nicht weiss!«

Der Zauberer, der keinen Namen hatte, sah durch das Vergrösserungsglas. Es sah wirklich aus wie eine ganze Stadt, wo alle Menschen ohne Kleider herumliefen. Es war schauerlich, aber noch schauerlicher war es, zu sehen, wie der eine den andern puffte und stiess, wie sie gezwickt und gezupft, gebissen und gezaust wurden!

»Sieh! sieh! Sein Bein ist länger als meins! Baff. Weg damit!« Da ist einer, der hat eine kleine Beule hinter dem Ohr, ein kleines, unschuldiges Beulchen, aber sie quält ihn, und darum soll sie nicht noch mehrere quälen, sie hackten in dieselbe und sie zerrten ihn, und sie frassen ihn der kleinen Beule wegen. Da sass einer ganz still und wünschte nur Ruhe und Frieden. Aber da zerrten sie an ihm, und sie zerrissen und verschlangen ihn!

»Das ist sehr belustigend!« sagte der Zauberer. »Ja, aber was glaubst du wohl, was es ist?« fragte Kribbel-Krabbel. »Kannst du es ausfindig machen?« »Nun, das ist ja leicht zu sehen!« sagte der andere. »Das ist irgend eine grosse Stadt, sie gleichen einander ja alle. Eine grosse Stadt ist es!«

»Es ist Grabenwasser!« sagte Kribbel-Krabbel.



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