Rumpelstilzli.li - E-Learning für die ersten 3 Schuljahre

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Der Arme und der Reiche

Art: Märchen
AutorIn: Brüder Grimm
Land: Deutschland
Sprecher: Tom Keymer

ähnliches Märchen: Die drei Wünsche

Früher lebte der liebe Gott noch selber auf der Erde unter den Menschen. Eines Abends war er müde. Die Nacht kam, bevor er zu einer Herberge kommen konnte. Nun standen auf dem Weg vor ihm zwei Häuser einander gegenüber. Das eine war gross und schön, das andere klein und ärmlich. Das Grosse gehörte einem reichen und das Kleine einem armen Manne. Da dachte unser Herrgott: »Dem Reichen werde ich nicht lästig sein, bei ihm will ich übernachten«.

Als er an seine Türe klopfte, machte der Reiche das Fenster auf und fragte den Fremdling, was er suche. Der Herr antwortete: »Ich bitte um ein Nachtlager.« Der Reiche guckte den Wandersmann von Kopf bis zu den Füssen an.

Und weil der liebe Gott einfache Kleider trug und nicht aussah wie einer, der viel Geld in der Tasche hat, schüttelte der Reiche den Kopf und sprach: »Ich kann euch nicht aufnehmen. Meine Zimmer sind voll Kräuter und Samen. Und wenn ich jeden beherbergen sollte, der an meine Tür klopft, so könnte ich selber den Bettelstab in die Hand nehmen. Sucht euch anderswo ein Auskommen!« Damit schlug er sein Fenster zu und liess den lieben Gott stehen.

Also kehrte ihm der liebe Gott den Rücken und ging hinüber zu dem kleinen Haus. Kaum hatte er angeklopft, so öffnete der Arme schon sein Türchen und bat den Wandersmann einzutreten. »Bleibt die Nacht über bei mir«, sagte er, »es ist schon finster, und heute könnt ihr doch nicht weiterkommen.«

Das gefiel dem lieben Gott, und er trat zu ihm ein. Die Frau des Armen reichte ihm die Hand, hiess ihn willkommen und sagte, er möchte sich’s bequem machen. Sie hätten nicht viel, aber was es auch wäre, gäben sie von Herzen gerne. Dann setzte sie Kartoffeln aufs Feuer. Während sie kochten, melkte sie ihre Ziege, damit sie ein wenig Milch dazu hätten. Und als der Tisch gedeckt war, setzte sich der liebe Gott und ass mit ihnen. Die einfache Kost schmeckte ihm gut, denn es waren vergnügte Gesichter dabei.

Nachdem sie gegessen hatten und Schlafenszeit war, rief die Frau heimlich ihren Mann. Sie sprach zu ihm: »Hör, lieber Mann, wir wollen heute Nacht im Stroh schlafen, damit der arme Wanderer sich in unser Bett legen und ausruhen kann. Er ist den ganzen Tag über gegangen und sehr müde.«

»Von Herzen gern,« antwortete er. »Ich will’s ihm anbieten«. Er ging zu dem lieben Gott und sagte ihm, er könne im Bett schlafen und seine Glieder ordentlich ausruhen. Der liebe Gott wollte den beiden Alten ihr Bett nicht nehmen, aber sie gaben nicht nach, bis er es endlich tat und sich in ihr Bett legte.

Am andern Morgen standen sie schon früh auf und kochten dem Gast ein Frühstück. Als nun die Sonne durchs Fensterlein schien und der liebe Gott aufgestanden war, ass er wieder mit ihnen und wollte dann seines Weges ziehen. Als er in der Türe stand, kehrte er sich um und sprach: »Weil ihr so mitleidig und fromm seid, so wünscht euch dreierlei, das will ich euch erfüllen.«

Da sagte der Arme: »Was soll ich mir sonst wünschen als die ewige Seligkeit, und dass wir zwei, solang wir leben, gesund dabei bleiben und unser tägliches Brot haben. Für’s dritte weiss ich mir nichts zu wünschen.« Der liebe Gott sprach: »Willst du dir nicht ein neues Haus für das alte wünschen?« »O ja,« sagte der Mann, »wenn ich das auch noch erhalten kann, so wär’s mir wohl lieb.« Da erfüllte der Herr ihre Wünsche, verwandelte ihr altes Haus in ein neues, gab ihnen nochmals seinen Segen und zog weiter.

Es war schon voller Tag, als der Reiche aufstand. Er setzte sich ans Fenster und sah gegenüber ein neues reinliches Haus mit roten Ziegeln, wo sonst eine alte Hütte gestanden hatte. Da machte er grosse Augen, rief seine Frau herbei und sprach: »Sag mir, was ist geschehen? Gestern Abend stand noch diese alte, elende Hütte, und heute steht da ein schönes, neues Haus. Lauf hinüber und frage, wie das gekommen ist.«

Die Frau ging und fragte den Armen aus. Er erzählte ihr: »Gestern kam ein Wanderer, der suchte Nachtherberge. Heute Morgen hat er uns beim Abschied drei Wünsche gewährt, die ewige Seligkeit, Gesundheit in diesem Leben und das tägliche Brot dazu, und zuletzt noch statt unserer alten Hütte ein schönes neues Haus.«

Die Frau des Reichen lief eilig zurück und erzählte ihrem Manne, wie alles gekommen war. Der Mann sprach: »Ich möchte mich zerreissen und zerschlagen! Hätte ich das nur gewusst! Der Fremde ist zuvor hier gewesen und hat bei uns übernachten wollen, ich habe ihn aber abgewiesen.«

»Beeile dich,« sprach die Frau, »und setze dich auf dein Pferd, so kannst du den Mann noch einholen. Und dann musst du dir auch drei Wünsche gewähren lassen!« Der Reiche befolgte den guten Rat, jagte mit seinem Pferd davon und holte den lieben Gott noch ein. Er redete fein und lieblich und bat, er möcht es nicht übelnehmen, dass er nicht gleich eingelassen worden sei. Er hätte den Schlüssel zur Haustüre gesucht, und während dem wäre er weggegangen. Wenn er eines Tages zurückkäme, müsste er bei ihm einkehren. »Ja,« sprach der liebe Gott, »wenn ich einmal zurückkomme, will ich es tun.«

Da fragte der Reiche, ob er nicht auch drei Wünsche tun dürfte wie sein Nachbar. Ja, sagte der liebe Gott, das dürfte er wohl, es wäre aber nicht gut für ihn, und er sollte sich lieber nichts wünschen. Der Reiche meinte, er wollte sich schon etwas aussuchen, das zu seinem Glück gereiche, wenn er nur wüsste, dass es erfüllt werde.

Da sprach der liebe Gott: »Reite heim, und drei Wünsche, die du sagst, sollen in Erfüllung gehen.« Nun hatte der Reiche, was er wollte. Er ritt heimwärts und fing an nachzusinnen, was er sich wünschen sollte.

Und wie er so am Überlegen war, liess er die Zügel fallen. Da fing das Pferd an zu bocken, so dass er immer in seinen Gedanken gestört wurde und sie gar nicht zusammenbringen konnte. Er klopfte dem Pferd an den Hals und sagte: »Sei ruhig, Liese«! Aber das Pferd bockte weiter. Da wurde er ärgerlich und rief ganz ungeduldig: »So wollt ich, dass du den Hals brichst!«

Und wie er das Wort ausgesprochen hatte, plump, fiel er auf die Erde. Das Pferd lag tot neben ihm und regte sich nicht mehr. Damit war der erste Wunsch erfüllt. Weil er aber von Natur aus geizig war, wollte er das Sattelzeug nicht im Stich lassen, schnitt es ab und warf es auf seinen Rücken.

Dann ging er zu Fuss weiter. »Du hast noch zwei Wünsche übrig,« dachte er und tröstete sich damit. Wie er nun langsam durch den Sand dahinging und zu Mittag die Sonne heiss brannte, wurde es ihm so warm und verdriesslich zumute. Der Sattel drückte ihn auf den Rücken. Es war ihm auch noch nicht eingefallen, was er sich wünschen sollte. »Wenn ich mir auch alle Schätze der Welt wünsche«, sprach er zu sich selbst, »so fällt mir nachher noch allerlei ein, dieses und jenes, das weiss ich im voraus. Ich will es aber so einrichten, dass mir gar nichts mehr zu wünschen übrig bleibt.« Dann seufzte er.

Da kam ihm so in den Sinn, wie gut es seine Frau jetzt hätte. Die sässe daheim in einer kühlen Stube und liesse sich’s wohl schmecken. Das ärgerte ihn ordentlich. Ohne dass er’s merkte, sprach er so hin: »Ich wollte, die sässe daheim auf dem Sattel und könnte nicht hinunter, statt dass ich ihn da auf meinem Rücken schleppe.« Und wie das letzte Wort aus seinem Munde kam, so war der Sattel von seinem Rücken verschwunden. Er merkte, dass sein zweiter Wunsch auch in Erfüllung gegangen war.

Da wurde ihm erst recht heiss! Er fing an zu laufen und wollte sich daheim ganz einsam in seine Kammer hinsetzen und auf etwas Grosses für den letzten Wunsch sinnen. Wie er aber ankam und die Stubentür aufmachte, sass da seine Frau mittendrin auf dem Sattel und konnte nicht herunter. Sie jammerte und schrie. Da sprach er: »Gib dich zufrieden. Ich will dir alle Reichtümer der Welt herbeiwünschen — nur bleib da sitzen.«

Sie schalt ihn aber einen Schafskopf und sprach: »Was helfen mir alle Reichtümer der Welt, wenn ich auf dem Sattel sitze. Du hast mich darauf gewünscht, du musst mir auch wieder hinunter helfen.« Er mochte wollen oder nicht: er musste den dritten Wunsch tun, damit sie vom Sattel heruntersteigen könnte. Und der Wunsch wurde sofort erfüllt.

Also hatte er nichts davon als Ärger, Mühe, Scheltworte und ein verlorenes Pferd. Die Armen aber lebten vergnügt, still und fromm, bis an ihr seliges Ende.



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