Rumpelstilzli.li - E-Learning für die ersten 3 Schuljahre

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Das Meer-Häschen

Art: Märchen
AutorIn: Brüder Grimm
Land: Deutschland
Sprecher: Tom Keymer

Es war einmal eine Königstochter, die hatte in ihrem Schloss hoch unter den Zinnen einen Saal mit zwölf Fenstern. Die Fenster gingen nach allen Himmels-richtungen. Wenn sie hinaufstieg und umherschaute, so konnte sie ihr ganzes Reich übersehen.

Aus dem ersten Fenster sah sie schon schärfer als andere Menschen, aus dem zweiten noch besser, aus dem dritten noch deutlicher und immer so weiter bis in dem zwölften, wo sie alles sah, was über und unter der Erde war und ihr nichts verborgen bleiben konnte.

Sie war aber sehr stolz und wollte sich niemandem unterwerfen. So liess sie bekannt machen, sie wolle denjenigen zum Gemahl nehmen, der sich so vor ihr verstecken könne, dass es ihr unmöglich wäre, ihn zu finden. Wer es aber versuche und sie entdecke ihn, so werde ihm das Haupt abgeschlagen. Schon sieben-und-neunzig Männer hatten es vergeblich versucht! Seit langer Zeit hatte sich niemand mehr gemeldet.

Die Königstochter war vergnügt und dachte: »Ich werde nun für meinen Lebtag frei bleiben.« Da erschienen drei Brüder vor ihr und kündigten ihr an, dass sie ihr Glück versuchen wollten.
Der Älteste glaubte sicher zu sein, wenn er in ein Höhle krieche. Aber sie erblickte ihn schon aus dem ersten Fenster, liess ihn herausziehen und ihn töten.
Der Zweite kroch in den Keller des Schlosses. Aber auch diesen erblickte sie aus dem ersten Fenster, und es war um ihn geschehen.
Da trat der Jüngste vor sie hin und bat, sie möchte ihm einen Tag Bedenkzeit geben und auch so gnädig sein, es ihn dreimal versuchen zu lassen. Weil er so schön war und so herzlich bat, so sagte sie: »Ja, ich will dir das bewilligen, aber es wird dir nicht glücken.«

Am folgenden Tag sann er lange nach, wie er sich verstecken sollte, aber es war vergeblich. Da ergriff er seine Büchse und ging hinaus auf die Jagd. Er sah einen Raben und nahm ihn aufs Korn. Eben wollte er abdrücken, da rief der Rabe: »Schiess nicht, ich will’s dir vergelten!«

Also ging er weiter und kam an einen See, wo er einen grossen Fisch überraschte, der aus der Tiefe herauf an die Oberfläche des Wassers gekommen war. Als er schon mit seiner Büchse zielte, rief der Fisch: »Schiess nicht, ich will’s dir vergelten!« Er liess ihn untertauchen.

Er ging weiter und begegnete einem Fuchs, der hinkte. Er schoss und verfehlte ihn. Da rief der Fuchs: »Komm lieber her, und zieh mir den Dorn aus dem Fuss.« Er tat es zwar, wollte aber dann den Fuchs töten und ihm den Balg abziehen. Der Fuchs sprach: »Mach’s nicht, ich will’s dir vergelten!« Der Jüngling liess ihn laufen. Und weil es Abend war, kehrte er heim.

Am andern Tag sollte er sich verkriechen. Aber wie er sich auch den Kopf darüber zerbrach, er wusste nicht, wohin. Er ging in den Wald zum Raben und sprach: »Ich habe dich leben lassen, jetzt sage mir, wohin ich mich verkriechen soll, damit mich die Königstochter nicht sieht.« Der Rabe senkte den Kopf und dachte lange nach.

Endlich schnarrte er: »Ich hab’s heraus!« Er holte ein Ei aus seinem Nest und zerlegte es in zwei Teile. Dann schloss er den Jüngling ins Ei hinein. Jetzt machte er es wieder ganz und setzte sich darauf. Als die Königstochter an das erste Fenster trat, konnte sie ihn nicht entdecken. Auch nicht in den folgenden Fenstern, und es wurde ihr angst und bange. Doch im elften Fenster erblickte sie ihn. Sie liess den Raben schiessen, das Ei holen und es zerbrechen, und der Jüngling musste herauskommen. Sie sprach: »Einmal ist es dir misslungen, wenn du es nicht besser machst, so bist du verloren.«

Am folgenden Tag ging er an den See und rief den Fisch herbei. Er sprach: »Ich habe dich leben lassen, nun sage mir, wo soll ich mich verbergen, damit mich die Königstochter nicht sieht?«

Der Fisch besann sich und rief endlich: »Ich hab’s heraus! Ich will dich in meinem Bauch verschliessen.« Er verschluckte ihn und fuhr hinab auf den Grund des Sees. Die Königstochter blickte durch ihre Fenster. Auch im elften Fenster sah sie ihn nicht und war bestürzt. Doch endlich im zwölften entdeckte sie ihn. Sie liess den Fisch fangen und töten, und der Jüngling kam zum Vorschein. Es kann sich jeder denken, wie ihm zu Mute war. Sie sprach: »Zweimal ist es dir misslungen, und es wird dir auch nächstes Mal nicht glücken!«

Am letzten Tag ging er mit schwerem Herzen aufs Feld und begegnete dem Fuchs. »Du weisst doch alle Schlupfwinkel zu finden,« sprach er, »ich habe dich leben lassen, jetzt rate mir, wohin ich mich verstecken soll, damit mich die Königstochter nicht findet.« »Ein schweres Stück,« antwortete der Fuchs und machte ein bedenkliches Gesicht.

Endlich rief er: »Ich hab’s heraus!« Er ging mit ihm zu einer Quelle. Dort tauchte er hinein und kam als ein Marktkrämer und Tierhändler heraus. Der Jüngling musste auch ins Wasser tauchen und wurde in ein kleines Meerhäschen verwandelt. Der Kaufmann zog in die Stadt und zeigte das artige Tierchen. Es lief viel Volk zusammen, um es anzusehen. Zuletzt kam auch die Königstochter. Weil sie grossen Gefallen daran hatte, kaufte sie es und gab dem Kaufmann viel Geld dafür. Bevor er es ihr hinreichte, sagte er zu ihm: »Wenn die Königstochter ans Fenster geht, so krieche schnell unter ihren Zopf!«

Nun kam die Zeit, wo sie ihn suchen sollte. Sie trat nach der Reihe an die Fenster, vom ersten bis zum elften, und sie sah ihn nicht. Als sie ihn auch bei dem zwölften nicht sah, war sie voll Angst und Zorn und schlug so gewaltig aus, dass das Glas in allen Fenstern in tausend Stücke zersprang und das ganze Schloss erzitterte.

Sie ging zurück und fühlte das Meerhäschen unter ihrem Zopf. Da packte sie es, warf es zu Boden und rief: »Fort, mir aus den Augen!« Das Meerhäschen lief zum Kaufmann, und beide eilten zur Quelle. Dort tauchten sie ins Wasser und erhielten ihre wahre Gestalt zurück. Der Jüngling dankte dem Fuchs und sprach: »Der Rabe und der Fisch sind blitzdumm gegen dich, du weisst die rechten Pfiffe, das muss wahr sein!«

Der Jüngling ging geradezu in das Schloss. Die Königstochter wartete schon auf ihn und fügte sich ihrem Schicksal. Die Hochzeit wurde gefeiert, und er war jetzt König und Herr des ganzen Reichs.

Er erzählte ihr niemals, wo er sich zum dritten Mal versteckt, und wer ihm geholfen hatte. So glaubte sie, er habe alles aus eigener Kunst getan und hatte Achtung vor ihm, denn sie dachte bei sich: »Der kann doch mehr als du!«



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