Art: Märchen
AutorIn: Brüder Grimm
Land: Deutschland
Sprecher: Tom Keymer
Es war einmal eine stolze Prinzessin. Wenn ein Freier kam, musste der etwas erraten. Wenn er’s aber nicht erraten konnte, wurde er mit Spott fortgeschickt. Sie liess auch bekanntmachen, wer ihr Rätsel löse, sollte sie heiraten dürfen, möchte kommen, wer da wollte.
Endlich fanden sich auch drei Schneider zusammen. Die zwei ältesten meinten, sie hätten so manchen feinen Stich getan und wären gescheit. Da könnte es ihnen nicht fehlen, sie müsstens auch hier eine Antwort finden. Der dritte war ein kleiner, unnützer Springinsfeld, der nicht einmal sein Handwerk verstand.
Er meinte aber, er müsste doch Glück haben. Da sprachen die zwei andern zu ihm: »Bleib nur zu Haus, du wirst mit deinem bisschen Verstand nicht weiter kommen.« Das Schneiderlein liess sich aber nicht irre machen und sagte, es wollte sich schon zu helfen wissen. Dann ging es dahin, als gehörte ihm die ganze Welt.
Da meldeten sich alle drei bei der Prinzessin und sagten, sie solle ihnen ihr Rätsel vorlegen. Es wären jetzt die rechten Leute mit feinem Verstand gekommen.
Da sprach die Prinzessin: »Ich habe zweierlei Haar auf dem Kopf, von was für Farben ist das?« »Wenn’s weiter nichts ist,« sagte der erste, »es wird schwarz und weiss sein.« Die Prinzessin sprach: »Falsch geraten!«
Da antwortete der zweite: »Ist es nicht schwarz und weiss, so ist es braun und rot.« »Falsch geraten!« sagte die Prinzessin. Da trat das dritte Schneiderlein keck hervor und sprach: »Die Prinzessin hat ein silbernes und ein goldenes Haar auf dem Kopf, und das sind die zweierlei Farben.«
Wie die Prinzessin das hörte, wurde sie blass und wäre vor Schrecken beinah hingefallen, denn das Schneiderlein hatte es getroffen. Sie hatte fest geglaubt, das würde kein Mensch auf der Welt herausbringen. Als sie sich beruhigt hatte, sprach sie: »Damit hast du noch nicht gewonnen. Du musst noch eins tun! Unten im Stall liegt ein Bär. Bei dem sollst du die Nacht verbringen. Und wenn ich dann am Morgen aufstehe, und du bist noch lebendig, so sollst du mich heiraten.«
Sie dachte aber, damit würde sie das Schneiderlein loswerden, denn der Bär hatte noch keinen Menschen lebendig gelassen, der ihm unter die Tatzen gekommen war. Das Schneiderlein liess sich aber nicht abschrecken. Es war ganz vergnügt und sprach: »Frisch gewagt, ist halb gewonnen.«
Als nun der Abend kam, wurde das Schneiderlein hinunter zum Bären gebracht. Der Bär wollte auch gleich auf den kleinen Kerl losgehen und ihm mit seiner Tatze einen Hieb geben. »Sachte, sachte,« sprach das Schneiderlein, »ich will dich schon zur Ruhe bringen.«
Da holte es ganz gemächlich, als hätte es keine Sorgen, Nüsse aus der Tasche. Es biss sie auf und ass die Kerne. Wie der Bär das sah, kriegte er Lust und wollte auch Nüsse haben. Das Schneiderlein griff in die Tasche und reichte ihm eine Handvoll. Es waren aber gar keine Nüsse, sondern Steine. Der Bär steckte sie ins Maul, konnte aber keine aufbringen, er mochte beissen, wie er wollte. »Ei,« dachte er, »was bist du für ein dummer Klotz und kannst nicht mal Nüsse aufbeissen.« Zum Schneiderlein sagte er: »Du, beiss mir die Nüsse auf!« »Da siehst du, was du für ein Kerl bist,« sprach das Schneiderlein, »du hast so ein grosses Maul und kannst die kleine Nuss nicht mal aufbeissen.«
Da nahm es die Steine, steckte dafür eine Nuss in den Mund und: knack, war sie entzwei. »Ich muss das Ding noch einmal probieren,« sprach der Bär, »wenn ich’s so ansehe, mein ich, ich müsst es auch können.« Da gab ihm das Schneiderlein wieder Steine. Der Bär arbeitete und biss aus allen Leibeskräften hinein. Aber du glaubst auch nicht, dass er sie aufgebracht hat.
Wie das vorbei war, holte das Schneiderlein eine Violine unter dem Rock hervor und spielte ein Stückchen darauf. Als der Bär die Musik vernahm, konnte er es nicht lassen und fing an zu tanzen. Als er ein Weilchen getanzt hatte, gefiel ihm das Ding so sehr, dass er zu dem Schneiderlein sprach: »Hör, ist das Geigen schwer?« »Kinderleicht, siehst du, mit der Linken leg ich die Finger drauf und mit der Rechten streich ich mit dem Bogen drauf los, da geht’s lustig, hopsasa und vivallalera!« »So geigen,« sprach der Bär, »das möcht ich auch können. Dann könnte ich dazu tanzen, so oft ich Lust hätte. Was meinst du dazu? Willst du mir Unterricht darin geben?«
»Von Herzen gern,« sagte das Schneiderlein, »wenn du Geschick dazu hast. Aber zeig einmal deine Tatzen her, die sind ja gewaltig lang, ich muss dir die Nägel ein wenig abschneiden.« Da wurde ein Schraubstock herbeigeholt, und der Bär legte seine Tatzen darauf. Das Schneiderlein aber schraubte sie fest und sprach: »Nun warte, bis ich mit der Schere komme,« und er liess den Bären brummen, so viel er wollte. Dann legte es sich in eine Ecke auf ein Bund Stroh und schlief ein.
Die Prinzessin hatte am Abend den Bären so gewaltig brummen gehört und glaubte, er hätte dem Schneider den Garaus gemacht. Am Morgen stand sie ganz unbesorgt und vergnügt auf. Als sie aber zum Stall guckte, so stand das Schneiderlein ganz munter davor und war gesund wie ein Fisch im Wasser. Da konnte sie nun kein Wort mehr gegen die Heirat sagen. Der König liess einen Wagen kommen. Darin musste sie mit dem Schneiderlein zur Kirche fahren. Dort sollten sie vermählt werden. Wie sie eingestiegen waren, gingen die beiden andern Schneider in den Stall und schraubten den Bären los.
Der Bär rannte in voller Wut hinter dem Wagen her. Die Prinzessin hörte ihn schnauben und brummen. Es wurde ihr Angst. Sie rief: »Ach, der Bär ist hinter uns und will dich holen.« Das Schneiderlein war fix, stellte sich auf den Kopf und streckte die Beine zum Fenster hinaus. Dann rief er: »Siehst du den Schraubstock? Wenn du nicht fortgehst, so sollst du wieder hinein.« Als der Bär das sah, drehte er um und lief fort.
Das Schneiderlein fuhr da ruhig mit der Prinzessin in die Kirche, um zu heiraten. Sie lebten vergnügt zusammen. Und wer’s nicht glaubt, bezahlt einen Taler.