Rumpelstilzli.li - E-Learning für die ersten 3 Schuljahre

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Rapunzel

Art: Märchen
AutorIn: Brüder Grimm
Land: Deutschland
Sprecher: Tom Keymer

Es waren einmal ein Mann und eine Frau, die wünschten sich schon lange vergeblich ein Kind. Endlich machte sich die Frau Hoffnung, der liebe Gott werde ihren Wunsch erfüllen.

Die Leute hatten in ihrem Hinter-Haus ein kleines Fenster. Aus dem konnte man in einen prächtigen Garten sehen, der voll der schönsten Blumen und Kräuter war. Er war aber von einer hohen Mauer umgeben, und niemand wagte hineinzugehen, weil er einer Zauberin gehörte, die grosse Macht hatte und von aller Welt gefürchtet wurde.

Eines Tages stand die Frau an diesem Fenster und sah in den Garten hinab. Da erblickte sie ein Beet, das mit den schönsten Rapunzeln bepflanzt war. Und sie sahen so frisch und grün aus, dass sie Lust verspürte, von den Rapunzeln zu essen. Das Verlangen nahm jeden Tag zu, und da sie wusste, dass sie keine davon bekommen konnte, so magerte sie ab und sah blass und elend aus.

Da erschrak der Mann und fragte: »Was fehlt dir, liebe Frau?« — »Ach«, antwortete sie, »wenn ich keine Rapunzeln aus dem Garten hinter unserem Haus zu essen kriege, so sterbe ich.« Der Mann, der sie sehr lieb hatte, dachte: Bevor du deine Frau sterben lässt, holst du ihr von den Rapunzeln, es mag kosten, was es will.

In der Abend-Dämmerung stieg er also über die Mauer in den Garten der Zauberin, stach in aller Eile ein Körbchen voll Rapunzeln und brachte sie seiner Frau. Sie machte sich sogleich Salat daraus und ass ihn voller Begierde auf. Sie hatten ihr aber so wunderbar geschmeckt, dass sie den anderen Tag noch dreimal soviel Lust bekam.

Sollte sie Ruhe haben, so musste der Mann noch einmal in den Garten steigen. Er kletterte also in der Abend-Dämmerung wieder hinab. Als er aber gerade über die Mauer sprang und sich umdrehte, erschrak er gewaltig, denn er sah die Zauberin vor sich stehen. »Wie kannst du es wagen«, sprach sie mit zornigem Blick, »in meinen Garten zu steigen und mir wie ein Dieb meine Rapunzeln zu stehlen? Das soll dir schlecht bekommen!«

»Ach«, bat er, »lasst Gnade für Recht ergehen! Ich habe mich nur aus Not dazu entschlossen. Meine Frau hat eure Rapunzeln aus dem Fenster entdeckt und empfindet so grosse Lust darauf, dass sie sterben würde, wenn sie nicht davon zu essen bekäme.«

Da liess die Zauberin in ihrem Zorn nach und sprach zu ihm: »Verhält es sich so, wie du sagst, so will ich dir gestatten, Rapunzeln mitzunehmen, soviel du willst. Allein, ich mache eine Bedingung: Du musst mir das Kind geben, das deine Frau zur Welt bringen wird. Es soll ihm gut gehen, und ich will für es sorgen wie eine Mutter.«

Der Mann versprach es in seiner Angst. Als die Frau das Kind gebar, erschien sogleich die Zauberin, gab dem Kind den Namen ’Rapunzel’ und nahm es mit sich fort.

Rapunzel wurde das schönste Kind unter der Sonne. Als es zwölf Jahre alt war, schloss es die Zauberin in einen Turm, der nur ganz oben ein kleines Fensterchen hatte. Wenn die Zauberin hinein wollte, so stellte sie sich vor den Turm und rief: »Rapunzel, Rapunzel, lass mir dein Haar herunter!«

Rapunzel hatte lange, prächtige Haare, fein wie gesponnenes Gold. Wenn sie nun die Stimme der Zauberin vernahm, so band sie ihre Zöpfe los, wickelte sie oben um einen Fensterhaken, und liess sie aussen am Turm hinunterfallen. Zehn Meter tief reichten sie! Die Zauberin aber kletterte daran hinauf.

Nach ein paar Jahren trug es sich zu, dass der Sohn des Königs durch den Wald ritt und am Turm vorbeikam. Da hörte er einen Gesang, der war so lieblich, dass er anhielt und horchte. Es war Rapunzel, die sich in ihrer Einsamkeit mit Singen die Zeit vertrieb. Der Königs-Sohn wollte zu ihr hinaufsteigen und suchte nach einer Tür im Turm. Er konnte jedoch keine finden. Er ritt heim.

Der Gesang hatte ihm so sehr das Herz gerührt, dass er von nun an jeden Tag hinaus in den Wald ging und zuhörte. Als er einmal so hinter einem Baum stand und lauschte, sah er, wie die Zauberin herankam, und hörte sie rufen: »Rapunzel, Rapunzel, lass mir dein Haar herunter!« Da liess Rapunzel die Haare herab, und die Zauberin stieg zu ihr hinauf.

»Ist das die Leiter, auf welcher man hinaufkommt, so will ich auch einmal mein Glück versuchen.« Und am folgenden Tag, als es anfing, dunkel zu werden, ging er zum Turm und rief: »Rapunzel, Rapunzel, lass mir dein Haar herunter!« Alsbald fielen die Haare herab, und der Königs-Sohn stieg hinauf.

Rapunzel erschrak gewaltig, als statt der Zauberin ein Mann zu ihr hereinkam. Bis jetzt hatte sie noch nie einen Mann gesehen. Doch der Königs-Sohn fing an, ganz freundlich mit ihr zu reden. Er erzählte ihr, dass er sie singen gehört habe. Es habe ihm keine Ruhe gelassen und er wollte sie sehen.

Da verlor Rapunzel ihre Angst, und als er sie fragte, ob sie ihn zum Manne nehmen wolle, und sie sah, dass er jung und schön war, dachte sie: Der wird mich lieber haben als die alte Frau und sagte ja und legte ihre Hand in seine Hand. Sie sprach: »Ich will gerne mit dir gehen, aber ich weiss nicht, wie ich hinabgelangen kann. Wenn du kommst, so bring jedesmal einen Strang Seide mit, daraus will ich eine Leiter flechten. Wenn sie fertig ist, steige ich hinunter, und du nimmst mich auf dein Pferd.« Sie verabredeten, dass er bis dahin alle Abende zu ihr kommen sollte, denn bei Tag kam die Alte.

Die Zauberin merkte auch nichts davon, bis Rapunzel sie einmal fragte: »Wie kommt es nur, sie sind viel schwerer heraufzuziehen als der junge Königs-Sohn, der ist in einem Augenblick bei mir.« »Ach, du gottloses Kind!« rief die Zauberin. »Was muss ich von dir hören? Ich dachte, ich hätte dich von aller Welt abgeschieden, und nun hast du mich betrogen!«

In ihrem Zorn packte sie die schönen Haare der Rapunzel, schlug sie ein paarmal um ihre linke Hand, griff eine Schere mit der rechten, und ritsch, ratsch, waren sie abgeschnitten, und die schönen Zöpfe lagen auf dem Boden. Und sie war so unbarmherzig, dass sie die arme Rapunzel in eine Wüste brachte, wo sie in grossem Jammer und Elend leben musste.

Am gleichen Tag aber, als sie Rapunzel verstossen hatte, machte die Zauberin abends die abgeschnittenen Zöpfe oben am Fenster-Haken fest. Als der Königssohn kam und rief: »Rapunzel, Rapunzel, lass mir dein Haar herunter!«, da liess sie die Haare hinab. Der Königs-Sohn stieg hinauf, aber er fand oben nicht seine liebste Rapunzel, sondern die Zauberin, die ihn mit bösen und giftigen Blicken ansah.

«Aha!« rief sie höhnisch. »Du willst deine  Liebste holen. Aber der schöne Vogel sitzt nicht mehr im Nest und singt nicht mehr. Die Katze hat ihn geholt und wird auch dir noch die Augen auskratzen. Für dich ist Rapunzel verloren, du wirst sie nie wieder erblicken.«

Der Königs-Sohn geriet ausser sich vor Schmerz, und in seiner Verzweiflung sprang er vom Turm hinab. Er kam zwar mit dem Leben davon, aber die Dornen, in die er fiel, zerstachen ihm die Augen. Da irrte er blind im Walde umher, ass nichts als Wurzeln und Beeren und tat nichts als jammern und weinen über den Verlust seiner liebsten Frau. So wanderte er einige Jahre im Unglück umher und geriet endlich in die Wüste, wohin die Zauberin auch Rapunzel gebracht hatte.

Die arme, junge Frau hatte schwere Zeiten hinter sich. Ganz alleine hatte sie hier unter den grössten Entbehrungen Zwillinge zur Welt gebracht, einen Jungen und ein Mädchen. Kümmerlich lebte sie mit ihnen und hatte nur ihre beiden Kinder, um ihr Herz daran zu erfreuen.

Als ihr Gemahl, der blinde Königs-Sohn, in ihre Nähe kam, vernahm er plötzlich eine Stimme, die ihm sehr bekannt vorkam. Da ging er darauf zu, und wie er herankam, erkannte ihn Rapunzel und fiel ihm um den Hals und weinte. Zwei von ihren Tränen aber benetzten seine Augen, und — oh Wunder — da wurden sie wieder klar, und er konnte damit sehen wie früher.

Voller Glück umarmte er nun auch seine beiden Kinder. Der Junge sah aus wie er, und das Mädchen war so schön wie seine Mutter Rapunzel. Und da der Königssohn nun wieder sehen konnte, erkannte er auch, wo er war. Er führte seine Familie in sein Reich, wo sie noch lange glücklich und vergnügt lebten.



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