Rumpelstilzli.li - E-Learning für die ersten 3 Schuljahre

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Das hässliche junge Entlein

Art: Märchen
AutorIn: H. Chr. Andersen
Land: Dänemark
Sprecher: Tom Keymer

Draussen auf dem Lande war herrlicher Sommer. Mitten im warmen Sonnenschein lag ein altes Rittergut, an dessen hohen Mauern grosse Klettenblätter wuchsen. Darunter sass eine Ente auf ihren Eiern, um ihre Jungen auszubrüten. Es dauerte so lange! Endlich aber platzte ein Ei nach dem anderen. »Piep, piep!« tönte es. Alle Eidotter wurden lebendig, und die Jungen steckten die Köpfe heraus.

»Rapp, rapp!« rief die alte Ente. »Seid ihr alle hübsch beisammen?«
Aber das grösste Ei lag noch unversehrt da. Also setzte sie sich wieder, bis endlich auch das grosse Ei platzte.

»Piep, piep!« sagte das Junge und kroch heraus. Es war viel grösser als die anderen Entchen und kam der Entenmutter grau und hässlich vor. Am nächsten Tag war prächtiges Wetter. Die Entenmutter ging mit ihrer ganzen Familie zum Schwimmen. Platsch! sprang sie ins Wasser. »Rapp, rapp!« sagte sie, und ein Entlein nach dem anderen plumpste hinein. Alle waren sie darin, selbst das hässliche, graue Junge schwamm mit. 

Die Entenmutter, die schon Zweifel hatte, war nun überzeugt, dass auch das graue Entlein ein wirkliches Entlein war. Wenn sie es genau betrachtete, fand sie es jetzt eigentlich ganz hübsch. »Rapp, rapp!« sagte sie. »Kommt nur mit mir, ich werde euch im Entenhof vorstellen. Aber bleibt immer nahe bei mir, damit niemand auf euch tritt, und nehmt euch vor den Katzen in Acht!«

Als sie in den Entenhof kamen, herrschte dort ein schrecklicher Lärm. Zwei Familien stritten sich um einen Fischkopf — am Ende erwischte ihn aber die Katze. »Seht, so geht es in der Welt zu!« sagte die Entenmutter. »Verneigt euch brav vor der alten Ente dort! Sie ist die Vornehmste von allen hier. Nun neigt euren Hals und sagt  ‘rapp’!« Das taten die Entlein. Aber die anderen Enten ringsherum erblickten das grosse, graue Entlein und schnatterten: »Pfui, wie dieses Entlein aussieht! So etwas wollen wir nicht dulden!« Und sogleich flog eine Ente hin und biss es in den Nacken.

»Lass es in Ruhe!« sagte die Mutter. »Es tut ja niemandem etwas.« Aber das arme Entlein, das zuletzt aus dem Ei gekrochen war und so hässlich aussah, wurde gebissen und gestossen, und das sowohl von den Enten wie von den Hühnern. Und der Truthahn, der mit Sporen zur Welt gekommen war und deshalb glaubte, dass er Kaiser sei, blies sich auf wie ein Schiff mit vollen Segeln, ging gerade auf das Entlein los, kollerte und wurde ganz rot am Kopf. 

Da lief und flatterte es über das Gehege. Die kleinen Vögel in den Büschen flogen erschrocken auf. Das geschieht, weil ich so hässlich bin, dachte das Entlein und rannte mit geschlossenen Augen weiter. So kam es hinaus zu dem grossen Moor, wo die wilden Enten wohnten. Hier lag es die ganze Nacht, es war sehr müde und traurig. Am Morgen entdeckten es die wilden Enten.

»Du bist ausserordentlich hässlich«, sagten sie. »Aber das stört uns nicht, solange du nicht in unsere Familie einheiratest.«
Das arme Entlein dachte nicht ans Heiraten, es wollte nur ruhig im Schilf liegen und etwas Wasser trinken. So lag es ganze zwei Tage. Da kamen zwei wilde, junge Gänseriche dorthin. »Höre, Kamerad«, sagten sie, »komm mit uns. Du bist imstande, dein Glück zu machen, so hässlich du auch bist!« —

»Piff, paff!« ertönte es, und die beiden wilden Gänseriche fielen tot in das Schilf nieder. »Piff, paff!« erscholl es wieder, und ganze Scharen wilder Gänse flogen aus dem Schilf auf. Es war grosse Jagd. War das ein Schreck für das arme Entlein! Es wendete den Kopf, um ihn unter den Flügel zu stecken.

Im selben Augenblick sah es dicht vor sich einen grossen Hund stehen. Er streckte dem Entlein seinen Rachen entgegen, zeigte ihm die scharfen Zähne und — platsch, platsch — ging er wieder, ohne es zu packen. »Oh, Gott sei Dank!« seufzte das Entlein. »Ich bin so hässlich, dass mich selbst der Hund nicht beissen mag!« Erst spät am Tage wurde es still. Das arme Entlein wartete noch ein paar Stunden, dann eilte es aus dem Moor.

Gegen Abend erreichte es eine kleine Bauernhütte. Hier wohnte eine alte Frau mit ihrer Katze und ihrem Huhn. Die Katze konnte einen Buckel machen und schnurren, das Huhn aber konnte glucken und Eier legen. Am Morgen bemerkte man sogleich das fremde Entlein, und die Katze fing an zu schnurren und das Huhn zu glucken. Die alte Frau sah nicht gut und glaubte, dass das junge Entlein eine Ente sei.

»Nun kann ich Enteneier bekommen!« freute sie sich. Aber es kamen keine Eier. Da das Entlein auch nicht lernen konnte, einen Buckel zu machen, zu schnurren oder zu glucken, sagte es: »Ich glaube, ich gehe hinaus in die Welt!« »Ja, tu das!« sagten das Huhn und die Katze. Und so ging das Entlein. Es schwamm auf dem Wasser, es tauchte unter, aber von allen Tieren wurde es wegen seiner Hässlichkeit übersehen.

Nun kam der Herbst, und die Blätter wurden gelb und braun. Die Luft war kalt. Die Wolken hingen schwer von Hagel und Schneeflocken.
Eines Abends, als die Sonne schon unterging, kam ein ganzer Schwarm herrlicher Vögel geflogen. Sie waren blendend weiss, mit langen, geschmeidigen Hälsen — es waren Schwäne. Sie stiessen einen ganz eigentümlichen Ton aus, breiteten ihre prächtigen, langen Flügel aus und flogen von der kalten Gegend fort nach warmen Ländern. Dem hässlichen, kleinen Entlein wurde so sonderbar zumute.

Der Winter wurde immer kälter. Das Entlein musste im Wasser herumschwimmen, um das völlige Einfrieren zu verhindern. Aber zuletzt wurde es matt, lag ganz still und fror so im Eise fest. Am Morgen kam ein Bauer vorbei, der schlug mit seinem Holzschuh das Eis kaputt und trug das Entlein nach Hause zu seiner Frau. Da wurde es gesund gepflegt. Aber als die Kinder mit ihm spielen wollten, erschrak es so, dass es durch die offene Tür hinaus in den Schnee lief und sich unter den Büschen verkroch. Doch es wäre zu bedrückend, all die Not und das Elend, die das Entlein in dem harten Winter erdulden musste, zu erzählen.

Als die Sonne wieder warm zu scheinen begann, lag es im Moor zwischen den Schilfrohren. Die Lerchen sangen, es war herrlicher Frühling. Da konnte das Entlein auf einmal seine Flügel schwingen, sie brausten stärker als früher und trugen es kräftig davon. Und ehe es das selbst recht wusste, befand es sich in einem grossen Garten, wo die Apfelbäume in Blüte standen, wo der Flieder duftete. Oh, hier war es schön und frühlingsfrisch! Unter der Brücke kamen drei prächtige weisse Schwäne geschwommen. Das Entlein kannte die schönen Tiere und wurde von einer eigentümlichen Traurigkeit befallen.

Demütig neigte es seinen Kopf der Wasserfläche zu. Aber, was erblickte es in dem klaren Wasser? Sein Spiegelbild zeigte, dass es jetzt kein plumper, schwarzgrauer Vogel mehr war, hässlich und garstig, sondern selbst ein Schwan!

Die grossen Schwäne umschwammen es und streichelten es mit den Schnäbeln. Im Garten kamen zwei Kinder gelaufen, die warfen Brot ins Wasser. »Da ist ein Neuer!« riefen sie. »Der Neue ist der Schönste, so jung und prächtig!« Und die alten Schwäne neigten sich vor ihm. Da fühlte er sich beschämt und steckte den Kopf unter seine Flügel. Er war so glücklich, aber durchaus nicht stolz! Ein gutes Herz wird nie stolz!

Er dachte daran, wie er verfolgt und verhöhnt worden war, und hörte nun alle sagen, dass er der schönste dieser schönen Vögel sei. Selbst der Flieder bog sich mit den Zweigen gerade zu ihm in das Wasser hinunter, und die Sonne schien warm und mild. Da brausten seine Federn, der schlanke Hals hob sich, und aus vollem Herzen jubelte er:

»Soviel Glück habe ich mir nicht träumen lassen,
als ich noch das hässliche Entlein war!«



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