Rumpelstilzli.li - E-Learning für die ersten 3 Schuljahre

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Die Kristallkugel

Art: Märchen
AutorIn: Brüder Grimm
Land: Deutschland
Sprecher: Tom Keymer

Es war einmal eine Zauberin. Sie hatte drei Söhne, die sich brüderlich liebten. Aber die Alte traute ihnen nicht und dachte, sie wollten ihr ihre Macht rauben.

Da verwandelte sie den Ältesten in einen Adler. Er musste auf dem Felsengebirge hausen. Man sah ihn manchmal am Himmel in grossen Kreisen auf und nieder schweben. Den Zweiten verwandelte sie in einen Wal. Er lebte im tiefen Meer. Man sah nur, wie er manchmal einen mächtigen Wasserstrahl in die Höhe warf. Beide hatten nur während zwei Stunden täglich ihre menschliche Gestalt.

Der dritte Sohn fürchtete, sie würde ihn auch in ein reissendes Tier verwandeln, in einen Bären oder einen Wolf. So ging er heimlich fort.

Er hatte aber gehört, dass auf dem Schloss der goldenen Sonne eine verwünschte Königstochter sässe, die auf Erlösung warte. Es müsste aber jeder sein Leben einsetzen, der es wagen sollte, die Königstochter befreien zu wollen. Schon dreiundzwanzig Jünglinge wären eines jämmerlichen Todes gestorben. Jetzt dürfte nur noch einer kommen.

Weil sein Herz ohne Furcht war, so fasste der dritte Sohn den Entschluss, das Schloss von der goldenen Sonne aufzusuchen. Er war schon lange Zeit herumgezogen und hatte es nicht finden können. Da geriet er in einen grossen Wald und wusste nicht, wo der Ausgang war.

Auf einmal erblickte er in der Ferne zwei Riesen, die winkten ihm mit der Hand. Als er zu ihnen kam, sprachen sie: »Wir streiten darum, wem der Hut gehören soll. Wir beide sind gleich stark, so kann keiner den andern besiegen. Die kleinen Menschen sind klüger als wir, daher wollen wir dir die Entscheidung überlassen.« »Wie könnt ihr euch um einen alten Hut streiten?« sagte der Jüngling. »Du weisst nicht, welche Eigenschaften er hat! Es ist ein Wünschhut: wer den aufsetzt, der kann sich hinwünschen wo er will, und im selben Augenblick ist er dort.«

»Gebt mir den Hut«, sagte der Jüngling, »ich will ein Stück gehen. Wenn ich euch dann rufe, so lauft um die Wette. Wer zuerst bei mir ist, dem soll er gehören.«

Er setzte den Hut auf und ging fort. Er dachte aber an die Königstochter, vergass die Riesen und ging immer weiter. Einmal seufzte er aus dem Herzensgrund und rief: »Ach, wäre ich doch auf dem Schloss der goldenen Sonne!« Kaum hatte er das gesagt, so stand er auf einem hohen Berg vor dem Tor des Schlosses.

Er trat hinein und ging durch alle Zimmer, bis er in dem letzten die Königstochter fand. Aber wie erschrak er, als er sie anblickte! Sie hatte ein aschgraues Gesicht voll Runzeln, trübe Augen und rote Haare.

»Seid ihr die Königstochter, deren Schönheit alle Welt rühmt?« rief er aus. »Ach,« erwiderte sie, »das ist meine Gestalt nicht! Die Augen der Menschen können mich nur in dieser Hässlichkeit sehen.

Aber damit du weisst, wie ich aussehe, so schau in den Spiegel. Der lässt sich nicht irre machen. Der zeigt dir mein Bild, wie es in Wahrheit ist.«

Sie gab ihm den Spiegel in die Hand, und er sah darin das Bild der schönsten Jungfrau, die auf der Welt war. Er sah, wie ihr vor Traurigkeit die Tränen über die Wangen rollten. Da sprach er: »Wie kannst du erlöst werden? Ich scheue keine Gefahr.« Sie sprach: »Wer die kristallene Kugel hat, muss sie dem Zauberer vorhalten. Damit bricht er seine Macht, und ich bekomme meine wahre Gestalt zurück. Ach, schon so mancher ist darum in seinen Tod gegangen. Du erbarmst mich, wenn du dich in die grosse Gefahr begibst.«

»Mich kann nichts abhalten«, sprach er. »Sage mir, was ich tun muss.« »Du sollst alles wissen,« sprach die Königstochter, »wenn du den Berg hinabgehst, so wird unten an einer Quelle ein wilder Auerochs stehen. Mit dem musst du kämpfen. Wenn es dir glückt, ihn zu töten, wird sich aus ihm ein feuriger Vogel erheben. Der trägt in seinem Leib ein glühendes Ei. Im Ei steckt als Dotter die Kristallkugel. Er lässt aber das Ei nicht fallen, bis er dazu gedrängt wird. Fällt es aber auf die Erde, so fängt es Feuer und verbrennt alles in seiner Nähe. Das Ei selbst zerschmilzt und mit ihm die kristallene Kugel. Und all deine Mühe ist vergeblich gewesen.«

Der Jüngling stieg hinab zu der Quelle, wo der Auerochse schnaubte und ihn anbrüllte. Nach langem Kampf stiess er ihm sein Schwert in den Leib, und der Ochse sank nieder.

Augenblicklich erhob sich aus ihm der Feuervogel und wollte fortfliegen. Aber der Adler, der Bruder des Jünglings, der zwischen den Wolken daher zog, stürzte auf ihn herab. Er jagte ihn aufs Meer hinaus und stiess ihn mit seinem Schnabel an, so dass er in der Bedrängnis das Ei fallen liess. Es fiel aber nicht in das Meer, sondern auf eine Fischerhütte, die am Ufer stand. Die fing sofort an zu rauchen und wollte in Flammen aufgehen. Da erhoben sich im Meer haushohe Wellen und strömten über die Hütte und bezwangen das Feuer.

Der andere Bruder, der Walfisch, war heran geschwommen und hatte das Wasser in die Höhe getrieben. Als der Brand gelöscht war, suchte der Jüngling nach dem Ei. Er fand es glücklicherweise. Es war noch nicht geschmolzen. Aber die Schale war von der plötzlichen Abkühlung durch das kalte Wasser zerbröckelt, und er konnte die Kristallkugel unversehrt herausnehmen.

Als der Jüngling zum Zauberer ging und ihm die Kristallkugel vorhielt, sagte dieser: »Meine Macht ist zerstört, und du bist von nun an der König vom Schloss der goldenen Sonne. Auch deinen Brüdern kannst du die menschliche Gestalt damit zurück geben.«

Da eilte der Jüngling zur Königstochter. Als er in ihr Zimmer trat, so stand sie da in vollem Glanz ihrer Schönheit, und beide wechselten voll Freude ihre Ringe miteinander.



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