Rumpelstilzli.li - E-Learning für die ersten 3 Schuljahre

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Die sieben Raben

Art: Märchen
AutorIn: Brüder Grimm
Land: Deutschland
Sprecher: Tom Keymer

Ein Mann hatte sieben Söhne und immer noch kein Töchterchen, so sehr er sich’s auch wünschte. Endlich war seine Frau wieder schwanger, und es wurde ein Mädchen. Die Freude war gross. Aber das Kind war dünn und klein. Wegen seiner Schwachheit wollte der Vater das Kind sofort taufen. Er schickte einen der Knaben schnell zum Brunnen, um Taufwasser zu holen. Die andern sechs liefen mit, und weil jeder der erste beim Schöpfen sein wollte, so fiel ihnen der Krug in den Brunnen.

Da standen sie und wussten nicht, was sie tun sollten. Keiner getraute sich heim. Der Vater wurde zu Hause ungeduldig und sagte: »Gewiss haben sie’s wieder über einem Spiel vergessen, die gottlosen Jungen.« Er bekam Angst, das Mädchen müsste ungetauft sterben. Im Ärger rief er: »Ich wollte, dass die Jungen alle zu Raben würden.« Kaum hatte er das gesagt, so hörte er ein Geschwirr über sich in der Luft. Er blickte in die Höhe und sah sieben kohlschwarze Raben davonfliegen.

Die Eltern konnten die Verwünschung nicht mehr zurücknehmen. Sie waren traurig über den Verlust ihrer sieben Söhne. Sie freuten sich aber, dass wenigstens  ihr liebes Töchterchen immer kräftiger und mit jedem Tage schöner wurde. Es wusste lange Zeit nicht einmal, dass es Geschwister gehabt hatte. Die Eltern hüteten sich, die sieben Söhne zu erwähnen.

Eines Tages hörte das Mädchen  die Leute von sich reden. Sie sagten, das Mädchen wäre wohl schön, aber doch eigentlich schuld an dem Unglück seiner sieben Brüder. Da wurde es ganz traurig und ging zu Vater und Mutter und fragte, ob es denn Brüder gehabt hätte, und wo sie hingeraten wären.

Nun konnten die Eltern das Geheimnis nicht länger verschweigen. Sie sagten der Tochter jedoch, ihre Geburt sei nur der unschuldige Anlass gewesen. Aber das Mädchen machte sich täglich ein Gewissen daraus und glaubte, es müsste seine Geschwister wieder erlösen.

Endlich machte es sich auf, in die weite Welt zu gehen. Es wollte ihre Brüder irgendwo aufspüren und befreien, es möchte kosten, was es wollte. Es nahm nichts mit sich als ein Ringlein von seinen Eltern zum Andenken, einen Laib Brot für den Hunger, ein Krüglein Wasser für den Durst und ein Stühlchen für die Müdigkeit.

Nun ging es immerzu, weit weit, bis ans Ende der Welt. Da kam es zur Sonne. Aber die war zu heiss und fürchterlich, und frass die kleinen Kinder. Eilig lief sie weg und lief hin zum Mond. Aber der war gar zu kalt und auch grausig und bös, und als er das Kind bemerkte, sprach er: »Ich rieche Menschenfleisch.«

Da machte es sich geschwind fort und kam zu den Sternen. Die waren freundlich und gut zu ihr. Und jeder sass auf seinem besonderen Stühlchen. Der Morgenstern aber stand auf, gab ihm einen kleinen Knochen und sprach: »Wenn du den Knochen nicht hast, kannst du den Glasberg nicht aufschliessen. Und in dem Glasberg sind deine Brüder.«

Das Mädchen nahm das Knöchlein und wickelte es in ein Tüchlein. Dann ging es wieder fort, so lange, bis es an den Glasberg kam. Das Tor war verschlossen. Es wollte das Knöchlein hervorholen. Aber als es das Tüchlein aufmachte, war es leer. Es hatte das Geschenk der guten Sterne verloren. Was sollte es nun anfangen? Seine Brüder wollte es retten, und es hatte keinen Schlüssel mehr zum Glasberg.

Das gute Schwesterchen nahm ein Messer und schnitt sich einen kleinen Finger ab. Den steckte es in das Tor und schloss glücklich auf. Als es hineingegangen war, kam ihm ein Zwerglein entgegen und fragte: »Mein Kind, was suchst du?« »Ich suche meine Brüder, die sieben Raben,« antwortete es.

Der Zwerg sprach: »Die Herren Raben sind nicht zu Haus, aber willst du hier so lang warten, bis sie kommen, so tritt ein.« Darauf trug das Zwerglein die Speise der Raben herein auf sieben Tellerchen und in sieben Becherchen. Von jedem Tellerchen ass das Schwesterchen ein Bröckchen, und aus jedem Becherchen trank es ein Schlückchen. In das letzte Becherchen aber liess es das Ringlein fallen, das es mitgenommen hatte.

Auf einmal hörte es in der Luft ein Geschwirr. Da sprach das Zwerglein: »Jetzt kommen die Herren Raben heim geflogen.« Da kamen sie und wollten essen und trinken und suchten ihre Tellerchen und Becherchen. Da sprach einer nach dem andern: »Wer hat von meinem Tellerchen gegessen? Wer hat aus meinem Becherchen getrunken? Das ist des Menschen Mund gewesen.« Und wie der Siebente auf den Grund des Bechers kam, rollte ihm das Ringlein entgegen. Da sah er es an und erkannte, dass es ein Ring von Vater und Mutter war. Er sprach: »Gott gebe, unsere Schwester wäre da, so wären wir erlöst.«

Wie das Mädchen, das hinter der Türe stand und lauschte, den Wunsch hörte, so trat es hervor. Und da bekamen alle die Raben ihre menschliche Gestalt wieder. Und sie herzten und küssten einander und zogen fröhlich heim.



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